Joe Golem und die versunkene Stadt
vergraben und einen Eisenpflock in den Boden darüber schlagen. Dann wird die Hexe wahrhaft tot sein.
E r steckt das schwarze Hexenherz in eine tiefe Tasche seines Mantels, spürt das feuchte Gewicht und die Aura der Verdammnis, die es umgibt. Dann steigt er aus dem Fluss, obwohl das Eis an ihm zerrt. Seine Hose gefriert im brausenden Sturm. Durch den Schnee sieht er, dass das Mädchen ihn beobachtet, und er geht zu ihm.
Angst blüht in ihren Augen auf, und er zögert, runzelt die Stirn. Das Mädchen weiß, dass er Hexen jagt und dem Dorf dient. Doch als er die Hand nach ihm ausstreckt, wimmert es wie ein ängstlicher Welpe und weicht im Schnee vor ihm zurück.
Ihn überkommt ein Gefühl, das er nicht recht deuten kann. Es könnte Zorn sein. Vielleicht ist es auch Schmerz, mit dem er sich weniger auskennt.
»Komm«, sagt er mit einer Stimme wie Schotter, »deine Mutter wartet.«
Im Dorf gibt es eine junge Frau, eine dunkle Schönheit mit seltsam traurigen Augen. Schon ein flüchtiger Blick von ihr bewegt sein Herz. Sie ist stets freundlich zu ihm, und er spürt jedes Mal eine angenehme Wärme in seinem Innern, wenn sie ihm einen Blick gönnt, mit ihm spricht oder ihm gar das Geschenk ihres melancholischen Lächelns macht. In ihren Augen ist keine Angst zu lesen, nur Trauer und Erstaunen.
Doch jetzt, als er an sie denkt, flackert Furcht in ihm auf. Wird sie ihn eines Tages genauso anschauen wie dieses junge Mädchen? Die Frage quält ihn, und es gibt keine Antwort darauf.
Er denkt an den alten Mann, den zornigen alten Mann mit dem gebrochenen Herzen, der ihn wie einen Sohn behandelt … und dann gleiten andere Gesichter an seinem geistigen Auge vorbei, als läge er in einem Fiebertraum.
»Komm«, sagt er und hebt das Mädchen mit seinen gewaltigen Armen hoch. Es zittert am ganzen Körper, doch er redet sich ein, dass es an der Kälte liegt.
Es ist nur der Winter.
W ährend er sich mit dem bebenden Mädchen in den Armen auf den Rückweg durch den Sturm macht, lauscht er auf den heulenden Wind und hört darin das Kreischen von Hexen und anderen Wesen, die ihm entkommen sind.
Doch irgendwann wird er auch sie erwischen.
Er weiß, es gibt noch andere dort draußen. Es gibt noch mehr Hexen.
Und er wird sie alle töten.
»Joe!«
Er blinzelte und zuckte zusammen, als er das Mietshaus sah, das vor ihnen im Regen aufragte. Er riss das Rad nach Steuerbord, und das Kajütboot scharrte am Obergeschoss vorbei – so nahe, dass er durch die Fenster hineinschauen konnte. Ein Paar alternde Kanalratten sprang von dem schmierigen Fenster zurück und kroch dann langsam wieder vor. Einer von ihnen strich sich fasziniert den Bart, während er beobachtete, wie das Boot über den Stein schrammte und dann weiterfuhr. Seine kleinen schwarzen Augen sahen denen der Nagetiere, deren Namen er trug, nicht unähnlich.
»Das war ziemlich knapp, findest du nicht?«, stellte Molly ihn zur Rede.
Er wandte sich ihr zu und blickte sie an. Einen Augenblick lang sah er das zitternde Mädchen am Ufer des vereisten Flusses vor sich, dann aber trat Mollys Gesicht in den Vordergrund. Regentropfen liefen ihr über die Wangen. Er sah ihre Furcht und ihren Zorn.
»Tut mir leid«, murmelte er.
»Du hast direkt darauf zugehalten«, sagte sie. »Was zum Teufel war denn das? Du warst ja wie in Trance. Ich habe versucht, dich rauszureißen, aber du warst total weg.«
»Das passiert mir nicht oft«, erwiderte er. Aber wir sprachen davon ,dachte er. Und meine Gedanken gingen dorthin, und bei dem Regen und dem Fluss und dem Halbdunkel …
»Was?«, fragte Molly.
»’n Traum.«
Molly starrte ihn an. »Du hast vorhin geträumt? «
Joe klopfte seine Manteltaschen ab, ertastete die Umrisse seines Zigarettenetuis und des Feuerzeugs. Er wollte beides hervorholen, aber dann fiel ihm der Regen ein. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Stattdessen legte er beide Hände aufs Steuerrad und konzentrierte sich darauf, das Kajütboot durch die Ruinen von Brooklyn Heights zu lenken. Voraus konnte er den Friedhof erkennen, eine große, von Gräbern bedeckte Insel, und richtete den Bug darauf.
»Ernsthaft«, sagte Molly, »was ist los?«
Joe zuckte mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht.«
Dann warf er ihr einen Blick zu, der sie zum Verstummen brachte. Was immer sie in seinen Augen sah – es hielt sie davon ab, auszusprechen, was ihr bereits auf der Zunge lag.
»Mach das Tau klar«, sagte Joe und zeigte auf ein Seil, das an einer Klampe
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