Joe Golem und die versunkene Stadt
am Bootsheck hing. »Wir sind da.«
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Kapitel 9
M olly band das Seil an einem der aus dem Wasser ragenden Pfähle des schmiedeeisernen Zaunes fest, der den Friedhof umgab. Der Großteil der Gräber befand sich auf der Hügelkuppe, aber der Zaun umschloss das Gebiet weiträumig. An manchen Stellen verlief er ganz unter Wasser, an anderen ragte er heraus.
Molly vergewisserte sich, dass der Knoten fest war, denn sie hatte Angst, hier festzusitzen, ohne eine Möglichkeit zu haben, nach Manhattan zurückzukehren.
Immer wieder blickte sie zu Joe. So freundlich er auch war mit seinen sanften Augen und seinem trockenen Humor, ihm haftete eine tiefe Traurigkeit an. Und als er vorhin so plötzlich weggetreten war und das Boot beinahe zu Schrott gefahren hatte, wäre sie um ein Haar in den Fluss gesprungen. Sie fürchtete sich nicht vor ihm, aber er machte ihr Angst. Mit Grausen dachte sie jetzt schon an die Rückfahrt über den Fluss.
»Kriegst du’s hin?«, fragte Joe.
»Ich habe zwei Jahre bei einem Bühnenzauberer gelebt«, erwiderte Molly. »Meinst du, ich wüsste nicht, wie man einen Knoten bindet?«
Erst als die Worte heraus waren, erkannte sie, wie schroff sie klangen. Schon daran merkte sie, wie angespannt sie war.
Joe kletterte aus dem Kajütboot und betrat den Gehweg, der durch den schmiedeeisernen Torbogen führte. Dann drehte er sich zum Boot um und schaute Molly an.
»Das hab ich doch gar nicht behauptet«, sagte er. »Ich hab nur gefragt, ob du’s hinkriegst.«
Molly sah schuldbewusst und verlegen weg. »Entschuldige. Ja, alles in Ordnung. Das Boot ist noch hier, wenn wir wiederkommen, verlass dich drauf. Es sei denn, ein paar Kanalratten reißen es sich unter den Nagel.«
»Prima«, sagte Joe. Er nickte in Richtung Tor. »Gehen wir.«
Molly zögerte. Sie war froh, wieder trockenen Boden unter den Füßen zu haben – zumindest so trocken, wie es bei Sturm und Gewitter möglich war –, aber im Unwetter lag der Friedhof so dunkel da, dass es ihr wie in tiefer Nacht vorkam, und der Gedanke, dort herumzustreifen, behagte ihr gar nicht, nicht einmal in Joes Begleitung.
»Das kannst du wohl nicht alleine machen?«, fragte sie.
Joe lächelte sie beruhigend an. »Ich könnte das Grab von Orlovs Mutter finden«, sagte er. »Aber das andere, von dem du erzählt hast – das, aus dem der Baum wächst –, um das zu finden, brauche ich dich. Außerdem willst du doch bestimmt nicht alleine hierbleiben, oder?«
Molly blickte auf den Fluss hinaus. In der Nähe ragten die Wipfel toter Bäume aus dem Wasser. Die unheimlichen Ruinen von Brooklyn Heights schienen an der Oberfläche zu treiben; einige Gebäude lagen völlig unter Wasser, andere schauten drohend heraus.
»Eher nicht«, gab Molly zu.
Joe schlurfte zu ihr. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, und er fuhr sich durchs Haar und strich es nach hinten. Er grinste. »Hätten wir bloß ’nen Schirm mitgebracht.«
Molly lachte leise.
»Was ist so komisch?«
»Ich kann mir dich gar nicht mit Schirm vorstellen.«
Joe zuckte mit den Schultern. »Mag sein. Aber du hättest einen brauchen können. Du siehst aus wie ’ne ersoffene Ratte.«
Molly hatte schon zu viele ertrunkene Ratten gesehen, um Einwände zu erheben. Sie zog ihr Haar nach hinten und wrang das Regenwasser hinaus. Trotz des gelben Regenmantels hatte das Wasser den Weg in ihre Jacke gefunden, und sie schauderte.
»Hier entlang«, sagte sie und führte Joe durch den Bogen des Eingangstores. Er beschleunigte seine Schritte, um ihr folgen zu können.
»Jetzt sei doch nicht so, Kleine. Ich hab nur Spaß gemacht«, sagte Joe, als er sie einholte.
»Weiß ich ja«, gab Molly zu. »Ich wollte nur nicht diskutieren. So habe ich mir diesen Tag nicht vorgestellt.«
»Ich auch nicht.«
Sie stapften über das rissige, holperige Pflaster. Viele Grabsteine waren verwittert, einige waren von Vandalen umgeworfen worden. Molly schaute nicht gerne auf die geborstenen Steine. Sie erinnerten sie daran, dass die Menschen, die hier begraben lagen, nicht nur tot, sondern auch vergessen waren. Entweder lebte niemand mehr, der noch um sie trauerte, oder kein Lebender kümmerte sich mehr um ihre letzten Ruhestätten.
Pflanzen rankten über die Vorderseiten der Grabsteine und die Türen und Dächer von Familiengrüften. An einigenStellen waren tote alte Bäume umgestürzt, und feuchtes Moos wuchs auf ihrer Rinde. Als Molly diesen Friedhof zum ersten Mal betreten hatte, war am Ufer dieser
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