Joe Golem und die versunkene Stadt
bereits, dass Morris Sowerberry nicht unter ihnen war. Schuldgefühle überkamen ihn, legten sich schwer auf sein versagendes Herz. Sowerberry war weder der tapferste noch der liebenswürdigste oder tüchtigste seiner Gefährten gewesen, und er war auch nicht der Einzige, der im Zuge einer Ermittlung sein Leben verloren hatte, aber sein Tod war mit Sicherheit der verstörendste … falls man überhaupt von »Tod« reden konnte.
Von Scotland Yard beauftragt, bei der Jagd nach dem Würger von Knightsbridge zu helfen, hatte Mr. Church die Identität des Mörders aufgedeckt, nur um selbst von ihm entführt zu werden. Der Würger hatte gewusst, dass sein Spiel aus war, und beabsichtigte, seinen ganzen Zorn an Church auszulassen. Er wollte ihn tagelang leiden sehen und seine Qualen so weit wie möglich verlängern, ehe er sein Lebenslicht auslöschte.
Sowerberry hatte Churchs Schlussfolgerungen gekannt, aber keine Beweise gehabt, die er Scotland Yard vorlegen konnte. Mehr als einmal hatte er versucht, dem Würger unentdeckt zu folgen, doch der bemerkte ihn jedes Mal und konnte ihm entkommen. Schließlich gelangte Sowerberry zu dem Schluss, dass er dem Wahnsinnigen nur dann bis zu dem Versteck folgen könne, in dem er Church gefangen hielt, wenn er unsichtbar war.
In Mr. Churchs Sammlung arkaner Artefakte hatte sich der Pascha-Opal befunden, ein Souvenir aus einem früheren Fall. In ein frisches Lorbeerblatt gehüllt, sollte er angeblich jeden, der ihn in der Hand hielt, unsichtbar machen. Bei Sowerberry hatte der Zauber sehr gut gewirkt. Für das bloße Auge nicht zu erkennen, verfolgte er den Mörder, bis der Mann ihn schließlich zu der alten Schneiderei führte, in deren Keller er Mr. Church festhielt. Noch immer unsichtbar, griff Sowerberry den Mörder an und rang mit ihm, doch kurz nachdem er ihn zu Boden geschlagen hatte, entglitt ihm der Opal, und der Stein rutschte aus seiner Lorbeerhülle.
Seit diesem Augenblick war Sowerberry verschwunden. Der Würger von Knightsbridge lag bewusstlos am Boden, und Mr. Church war es gelungen, sich rechtzeitig von seinen Fesseln zu befreien, doch von Sowerberry gab es nie wieder eine Spur. Unfähig, je wieder sichtbar zu werden, war er von der Welt verschwunden, mit Fleisch und Knochen, und sein Geist würde niemals Ruhe finden. Er konnte nicht hier unter den anderen Erscheinungen sein, denn er war weder körperlich noch ätherisch. Er war nicht mehr am Leben, aber auch nicht wirklich tot.
Simon , sagte der Geist von Nigel Hawthorne. Seine Stimme sandte einen kühlen Hauch in Mr. Churchs Ohr, obwohl der Geist noch mit den anderen in den halbdunklen Winkeln des Zimmers verharrte. Cranham hat recht. Sowerberry war sich des Risikos bewusst. Er hatte das Dossier über den Pascha-Opal gelesen und kannte die Warnungen.
»Das weiß ich«, sagte Mr. Church und starrte zum ersten Mal in die durchscheinenden Augen seines ersten Partners, den er je zu Ermittlungen hinzugezogen hatte und der seit über fünfundsechzig Jahren tot war. »Aber er nahm das Risiko auf sich, Hawthorne. Bei unserer Arbeit stürzen wir uns immer wieder in die Gefahr, vorbehaltlos, in dem Wissen, dass wir es für das Wohl der Mitmenschen tun.«
Doch Morris tat es für Sie , stellte Cranham fest. Seine Stimme war so fern, dass sie sich wie das Rascheln von Papier anhörte.
»Das weiß ich!«, rief Mr. Church zornig und bedauerte augenblicklich, Cranham so grob angefahren zu haben. Er war sich nicht völlig sicher, wieso die Geister erschienen waren, aber ganz gewiss nicht, um von ihm abgekanzelt zu werden.
Endlich löste sich Hawthornes grauer Schemen aus der dunklen Ecke. In dem Dämmerlicht, das durchs Fenster fiel, einer Mischung aus goldener Abendsonne und drohendem schwarzen Sturm, war er kaum mehr als ein Umriss, aus Rauch geformt.
Morris Sowerberry hat es verdient zu ruhen , flüsterte Hawthorne. Seine Eltern warten in Ewigkeit auf ihn. Die Frau, die er liebte, hat nie geheiratet. Sie fragt sich, wann sein Geist sich endlich von den Banden der körperlichen Welt löst und sich zu ihr gesellt. Aber das wird nicht geschehen. Sowerberry wird niemals Ruhe finden, Simon. Es ist nicht Ihr Fehler, trotz aller Schuld, die Sie Ihrem Herzen aufgebürdet haben, doch wenn Sie in der Zeit zurückreisen könnten, gewappnet mit dem Wissen um Ereignisse, ehe sie geschehen – würden Sie ihn dann nicht daran hindern, den Opal zu nehmen? Wäre es nicht Ihr Wunsch, dass Sowerberry die Ruhe
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