Joe Golem und die versunkene Stadt
die Pfeife und sog den aromatischen Rauch ein, der ihn so weit beruhigte, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.
In den aufsteigenden Rauchkringeln entdeckte Church in der dunkelsten Ecke des Zimmers einen Umriss. Erschrocken zuckte er im Sessel zurück. Mit den Spinnenfingern nestelte er in der obersten Schreibtischschublade, wo er einen Revolver aufbewahrte. In diesem Moment verfestigte sich der Schemen. Church erkannte die stämmige, aus Schatten und Erinnerungen geschaffene Gestalt. Sie war ihm so vertraut, dass ihm der Mund offen stand. Die brennende Pfeife fielihm in den Schoß. Er riss sie wieder an sich und umfasste sie, ohne auf die Asche und den Tabak zu achten, die herausgefallen waren und seine Hose ruinierten.
»Hawthorne?«, hauchte er.
Das hauchzarte Gebilde in der dunklen Ecke nickte düster, doch dann lächelte es freundlich, wenngleich ein wenig traurig. Das Entsetzen, das Church beim Anblick der Erscheinung gepackt hatte, verschwand. Wieder begannen seine Hände zu zittern, und er beobachtete, wie das Gespenst näher an den Schreibtisch schwebte. Dahinter waren weitere solche Schemen, die Umrisse anderer Männer, die die Rolle eingenommen hatten, die zuerst Hawthorne in Mr. Churchs Leben gespielt hatte – Freund und Gefährte, Beichtvater und Partner beim Auflösen einer Vielzahl von Verbrechen. Einen nach dem anderen hatte er diese Männer in sein Leben gelassen. Und einer nach dem anderen waren sie gestorben, während Simon Church Mittel und Wege gefunden hatte, seine irdische Existenz immer weiter zu verlängern.
Hawthornes Gespenst neigte den Kopf und blickte ihn voll Zuneigung und Mitgefühl an. Wieder spürte Church, wie irgendetwas in seiner Brust knirschte. Der Mechanismus schepperte mehrmals, und die Zuckungen ließen ihn gegen den Ledersessel schlagen – einmal, zweimal, ein drittes Mal. Sein linker Arm wollte offenbar nicht mehr auf die Befehle seines Gehirns reagieren. Der Arm weigerte sich schlichtweg, die Pfeife aufzuheben und auf den Tisch zu legen. Seine rechte Hand bebte heftig, als er versuchte, sie aus der offenen Schublade zu ziehen, und ruckte nach links und rechts.
»Noch nicht«, wisperte Church. »Noch nicht, meine alten Freunde.«
Warme Tränen berührten seine Lippen, und als er sie diesmal kostete, bestanden sie aus purem Öl. Er stellte sich vor, dass sein Gesicht schwarz gestreift sein müsse, und obwohl er nicht an sich hinunterblicken konnte, vermutete er, dass das Öl Flecken auf seinem Jackett verursacht hatte.
Church zwang sich aufzustehen und hörte das innere Knirschen so, wie er seine Stimme hörte, wenn er sprach. Es war ein Teil von ihm.
Er wandte den Blick von den grauen Erscheinungen ab, die in den dunklen Zimmerecken schwebten. Wenn er ihnen in die Augen schaute, so fürchtete er, könnte er darin lesen, weshalb sie gekommen waren, und diese Erkenntnis weckte heillose Furcht in ihm.
»Ich sehe euch«, flüsterte er. »Und so leid es mir tut, alte Freunde, ihr macht mir Angst. Mehr als einmal haben Geisterhände eingegriffen, um den Lauf meines Lebens zu ändern, doch heute Abend gefrieren mir bei diesem Gedanken das Blut und das Öl. Ich glaube, ich weiß, weshalb ihr gekommen seid. Doch ob zum Guten oder Schlechten, meine Arbeit ist noch nicht beendet.«
Church , wisperte das Gespenst von Dr. Nigel Hawthorne. Sie haben dem Tod einen bewundernswerten Kampf geliefert …
»Still!«, rief Mr. Church. Seine Hände bebten. Er biss die Zähne zusammen, um den Schmerz in seiner Brust zu überdecken, während er auf die Regale zuging, die seine seltensten und kostbarsten Bände enthielten.
Church , wisperte der tote Thomas Cranham, der dritte Mann, der nach dem Tod des ehemaligen Schiffsarztes Hawthornes Aufgaben übernommen hatte. Erinnern Sie sich daran?
»Nein«, sagte Church, und seine Knie gaben nach. Er taumelte gegen die Regale, und Bücher fielen heraus. Der gelbe Schädel eines uralten chaldäischen Alchimisten prallte auf den Boden und zerfiel zu Staub.
Simon, bitte, sehen Sie es sich an , flehte Cranhams Geist.
Church schloss die Augen. Kummer füllte sämtliche Winkel und Nischen, die seine vielen Lebensjahre in ihm leer gelassen hatten. Bis zu diesem Augenblick, wo die Trauer ihn übermannte, war ihm völlig entgangen, wie hohl sein Inneres geworden war.
»Noch nicht, verdammt«, krächzte er.
Augenblicklich bedauerte er seine Worte. Jeden dieser Männer hatte er sehr geschätzt, solange sie gelebt
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