Joe Golem und die versunkene Stadt
schlägt die Augen auf und dreht den Kopf, sucht nach der Quelle des Geräuschs. Es ist nichts Ungewöhnliches zu sein. Die Bücher stehen auf ihren Regalen, zusammen mit den Trophäen seiner Laufbahn, ob rätselhaft-okkulter oder alltäglicher Natur. Ein großer Globus ruht in seinem Gestell. Das Auffälligste in dieser Zimmerecke ist die gewaltige Steinfigur des Golems, die ihn mit ihren Statuenaugen mustert.
Unmittelbar am Rand des Mondlichtkreises sieht Church auf dem Boden ein halb zerbröckeltes Stück Stein zu Füßen des Golems liegen, umgeben von verstreutem Lehn. Neugierig legt er den Herzapparat ab und drückt den Zigarettenstummel aus. Erst jetzt bemerkt er, wie gründlich er sich die Finger verbrannt hat. Der Schmerz sticht, und er pustet warmen Atem auf seine Hände und kühlt die Verbrennungen, während er sich von seinem Sessel erhebt und sich der Statue nähert,um einen besseren Blick auf die Bruchstücke zu werfen, die vom Golem abgefallen sind. Er neigt den Kopf zur Seite und betrachtet aufmerksam die Steinfigur.
Church hat den Golem aus einem Museum in Dubrovnik. In einer kleinen Stadt an einem Fluss in Norddalmatien glauben die Einheimischen, ihre Gegend sei früher von Hexen heimgesucht worden, die Menschen folterten, ermordeten und versklavten, die Säuglinge fraßen und Unschuldige schändeten. Die Menschen fürchteten sich, nachts ihre Häuser zu verlassen, sich weit von ihrem Heim zu entfernen oder bei Dunkelheit auf der Straße zu sein. Der Legende zufolge schufen die Stadtältesten einen Golem aus Stein und Flusslehm und erweckten ihn zum Leben. Jahrelang jagte und tötete er die Hexen, trieb schließlich die Letzte von ihnen zur Mündung des Flusses und hinaus ins Meer. Nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte, wurde dem Golem zu ruhen gestattet; er wurde starr und war nichts weiter mehr als eine Statue.
Der Golem war bei Ausschachtungsarbeiten für das Fundament einer neuen Brücke entdeckt worden. Das örtliche Museum hatte ihn beansprucht – als Kuriosität, die man zur Schau stellten konnte. Das hatte sich geändert, als eine Reihe von Morden in Dubrovnik die Ermittler in dieses Museum und zum Golem führte. Der Bürgermeister von Dubrovnik hatte sich persönlich mit Mr. Church in Verbindung gesetzt und um seine Mithilfe ersucht, und nach drei Tagen war die ganze verwickelte Geschichte ans Tageslicht gekommen: Eine Einheimische, die von den Hexen abstammte, die das Flussstädtchen einst heimgesucht hatten, hatte den Golem als Marionette missbraucht, von der sie ihre Feinde töten ließ. Sie hatte sich dabei für äußerst klug gehalten und fand ihre Perversion des Golems herrlich ironisch.
Nach diesem Vorfall hatten die Kuratoren des Museums beschlossen, den Golem zu vernichten, aus Furcht, er könne erneut durch Hexenkunst manipuliert werden, doch Church hatte viel über die traurige und edle Geschichte dieser Kreatur erfahren, und der Gedanke, dass der Golem vernichtet werden sollte, hatte ihm wehgetan. Nach einigen Gesprächen und gewissen finanziellen Transaktionen durfte er den Golem in eine Kiste packen und mit nach Hause nehmen.
Seitdem hat er viele Jahre hier gestanden, ein stiller Gefährte, der alles beobachtet. So hat Church ihn sich zumindest immer vorgestellt. Nun geht er in die Hocke und fährt mit den Fingern durch die feinen Körnchen aus trockenem Lehm, die auf den Boden gefallen sind. Er reibt sie zwischen den Fingern und stellt fest, dass sie ein wenig feucht sind. Als er sie sich vor die Nase hält, riecht er den Fluss.
Unmöglich , denkt Church. Aber das hat er schon oft gedacht und wurde eines Besseren belehrt.
Beunruhigt richtet er sich wieder auf und blickt durch den Raum, mustert jede Ecke und das Zusammenspiel von Mondlicht und Schatten. Ist es wieder geschehen? Ist es erneut einer Hexe gelungen, den Golem in ihre Gewalt zu bringen? Sein schwaches Herz schmerzt, und er presst eine Hand auf die Brust, schaut zu seinem Schreibtisch und auf das Ersatzteil, das er sich angefertigt hat.
Dann wendet er sich wieder der Steinfigur zu und tritt näher an sie heran, betrachtet sie eingehend. Mondschatten fallen auf die zerklüfteten Gesichtszüge und erschweren eine sichere Aussage, doch er hat den Eindruck, dass die Miene sich verändert hat. Aber noch etwas anderes ist nicht mehr wie zuvor. Gebannt starrt Church auf die Risse inder Brust des Golems. Sie sind zwar immer schon dort gewesen – die typischen Sprünge, die sich im Lehm beim Trocknen
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