Joe Golem und die versunkene Stadt
Churchs Brust schepperte irgendetwas, und der Rauchgestank wurde schlimmer. Es gelang ihm, die rechte Hand zu heben und sich die Tränen abzuwischen. Er wollte Thompson widersprechen. Keiner von ihnen war hier gewesen in der Nacht, als Joe die Augen aufgeschlagen hatte, hier in diesem Zimmer. Trotzdem hatten sie natürlich recht. Joes Erweckung war für sie beide ein Geschenk.
»Sie glauben, dass Joes Geist nie Ruhe findet, wenn ich ihn zurückhole. Aber mit Bestimmtheit wissen Sie es nicht.«
Die Gespenster musterten ihn schweigend – ein Schweigen, in dassich Missbilligung mischte. Mr. Church erschauerte. Er fürchtete die Erscheinungen nicht; schließlich waren es seine Freunde, doch sie waren dennoch Tote, und der Tod war von jeher seine Nemesis gewesen.
Cranham begann: Bitte, Simon …
»Joe ist einzigartig«, unterbrach ihn Mr. Church. »Wir können nicht wissen, welches Schicksal ihm bestimmt ist, denn die Welt hat jemanden wie ihn nie gekannt. Ich fürchte den Tod, meine alten Freunde, aber ich weiß, dass er zu mir kommt, und ich kann keinen Widerstand mehr leisten.«
Er blickte in die Gesichter der Gespenster.
»Aber jemand muss hier sein, um zu kämpfen«, beharrte er. »Während Ihrer Lebenszeit und durch Ihre Zusammenarbeit mit mir sind wir immer wieder auf das Böse gestoßen. Doch ich sage Ihnen, es gibt noch mehr. Ich habe es zum ersten Mal in der Nacht gespürt, als ich das Ritual unterbrach, das Andrew Golnik an Cynthia Orlov vornahm. Die Erinnerung daran macht mich noch immer frösteln. Es verstört mich so sehr, dass ich mich nicht nur um die Welt sorge, die ich mit meinem letzten Atemzug hinter mir lasse, sondern auch um unsere Seelen im Jenseits. Denn ich weiß nicht, welche Reichweite diese unnatürliche Präsenz besitzt, die ich in jener Nacht spürte, als sie wie durch einen Riss im Vorhang in unsere Welt gespäht hat.
Das ist nichts Übernatürliches, es ist etwas Unnatürliches . Es gehört nicht in das Gewebe unserer Wirklichkeit. Es ist fremd und boshaft. Cocteau möchte dieser schrecklichen Wesenheit huldigen. Er möchte sich ihr öffnen – sich selbst und die ganze Welt –, um zu sehen, welche Macht er dadurch erlangt. Er glaubt, das Pentajulum würde ihm dies ermöglichen. Ich weiß nicht, wie das Pentajulum darauf reagiert. Vielleicht vernichtet Cocteau diese Welt. Vielleicht liefert er sie dieser Präsenz aus, die hinter dem Schleier lauert, der ihre Realität von der unseren trennt. Und alles, was zwischen Cocteau und seinen Zielensteht – oder schlimmer, den Zielen dieser Präsenz –, ist ein rothaariges Straßenkind namens Molly McHugh.
Molly wird Hilfe benötigen, und ich kann nicht für sie da sein. Meine Zeit ist vorüber. Aber Joe wurde von Anfang an ins Leben gerufen, um Menschen vor fremdartiger Boshaftigkeit zu retten. Wenn Sie recht haben und Joes Geist für immer verloren ist, werde ich die Ewigkeit in selbst erschaffener Verdammnis verbringen. Dennoch … es muss getan werden, und Sie alle wissen es.«
Während er sprach, hatten ihm seine Qual und seine Gewissheit die Kraft geschenkt, weiterzumachen. Nun, nachdem Church zum Ende gekommen war, schnürte sich ihm die Kehle zu, und er bekam kaum noch Luft. Seine linke Hand zitterte und rutschte vom Regal ab, an das er sich lehnte. Langsam glitt er zu Boden. Panik durchfuhr ihn bei dem Gedanken, ihm könnte die Zeit ausgegangen sein.
Auf den Knien wandte er sich um und fixierte die Gespenster Hawthornes und Cranhams mit grimmigem Blick.
»Meine Zeit verrinnt. Es muss getan werden. Verzeihen Sie mir.«
Hawthorne schaute zu den anderen Gespenstern. Zuletzt blickte er Cranham an, der ernst nickte. Die beiden Erscheinungen schwebten näher an Church heran. Er starrte in das zarte Nichts, das Nigel Hawthornes Gesicht war, und die Schmerzen in seiner Brust nahmen zu. Das Knirschen in seinem Innern war verstummt, was ihm besondere Sorge bereitete.
Wir stehen zu Ihnen, Simon. Bis zum Ende.
In Church schlugen die Gefühle hohe Wogen. Kummer über sein eigenes Schicksal und das Joes vermischte sich mit Dankbarkeit für die Güte alter Freunde. Mit einer gewaltigen Anstrengung, bei der Metall auf Metall scharrte und ihm dickliche, dunkle Flüssigkeit aus Mund und Nase quoll, zog Mr. Church sich an dem Regal wieder auf die Beine.
Er brauchte nur wenige Augenblicke, dann hielt er das Journal in derHand, in dem alles stand, was er über die Hexen von Obrovac an der Zrmanja und das
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