Joe Kurtz 02 - Bitterkalt
hören, wenn er die Treppe heraufkam, die jetzt vor ihnen lag, und besaßen ein freies Schussfeld hinunter in den Rundbau.
So weit der Plan.
Im Moment suchte Hansen mit seinem Nachtsichtgerät gründlich die kleine Empore an der Südseite links von der Haupttreppe ab. Es war genügend Restlicht vorhanden, um zu erkennen, dass dort niemand stand, doch die Dunkelheit zwischen den Stäben der alten Brüstung bot ein Wirrwarr aus grüner Statik. Er überprüfte die schmale Treppe, die zum Balkon führte – sie war abgesperrt und mit Schutt übersät. Trotzdem könnte es nicht schaden, einmal dort oben nachzusehen, bevor sie weiter in den Rundbau vordrangen, um ...
»Hören Sie!«, flüsterte Brubaker.
Ein Geräusch aus dem Rundbau jenseits der Haupttreppe. Ein Klappern. Das Schleifen von Schuhen auf Marmor oder Holz.
Hansen hielt die AR-15 in der Linken und packte mit der Rechten jeden der beiden Männer am Kragen der Flakweste, um sie zum Schweigen zu bringen und zur Disziplin zu ermahnen. Doch er dachte: Ich habe dich, Kurtz! Ich habe dich!
Marco lag flach auf dem Boden des kleinen Balkons und hob den Kopf gerade eben weit genug, um zwischen den dicken Marmorpfeilern der Brüstung hindurchschielen zu können. Er konnte nicht sehen, wer dort unten stand – die Dunkelheit war zu absolut –, aber er hörte Schritte und einmal ein eindringliches Flüstern. Die ungebetenen Gäste bewegten sich ohne Taschenlampen durch die Dunkelheit. Vielleicht benutzten sie diese Nachtsichtgeräte, wie man sie aus Hollywoodfilmen kannte.
Als das leise Scharren näher kam und zehn Meter vor seinem Balkon verstummte, presste Marco sein Gesicht in den Staub. Warum sollte er sich der Gefahr einer Entdeckung aussetzen, wenn er die Mistkerle ohnehin nicht sehen konnte.
Marco hörte deutlich, wie ein Mann »Hören Sie!« raunte, dann hallten anstelle des Scharrens plötzlich Schritte durch die Finsternis, eilten die Haupttreppe hinauf zum Rundbau und entfernten sich dann in Richtung des Turms, wo Kurtz Position bezogen hatte. Marco war allein im riesigen Wartesaal. Er holte tief Luft und stand auf, versuchte, etwas in der Schwärze zu erkennen. Selbst nach 20 Minuten hatten sich seine Augen noch nicht vollständig an die Dunkelheit gewöhnt.
Er nahm das Funkgerät in die Hand, hielt aber inne, bevor er auf die Sendetaste drückte. Wie viele waren es gewesen? Marco wusste es nicht. Wenn er jetzt nur zweimal die Taste drückte, würde Kurtz außerdem nicht wissen, dass sich die Gegenseite mit irgendwelchem Hightech-Spielzeug ungehindert durch die Dunkelheit bewegte. Er könnte in das Funkgerät flüstern und Kurtz warnen.
Scheiß drauf. Als dieser furchteinflößende Schwanzlutscher Leo umgelegt hatte, hatte Marco beschlossen, dass seine beste Überlebenschance darin bestand, sich an Miss Farino zu halten, zumindest, bis die Kacke nicht mehr am Dampfen war. Er schuldete Kurtz nichts. Trotzdem konnte Marco nicht riskieren, dass der Kerl auf ihn sauer war, falls sie heil aus dieser Geschichte herauskamen. Doch das war noch lange kein Grund, dass Marco ein Flüstern riskierte, solange sich Feinde im Gebäude aufhielten.
Schweigend drückte Marco zweimal die Sendetaste. Er hörte das Klicken in seinem Ohrhörer, dann schaltete er das Funkgerät aus, pulte den Stöpsel aus seinem Ohr und verstaute beides in seiner Tasche. Höchste Zeit, sich von hier zu verpissen.
Als die lange Klinge von hinten über Marcos Kehle fuhr, durch die Halsschlagader und die Luftröhre schnitt und beinahe sein Rückenmark durchtrennte, wusste er nicht, wie ihm geschah, so schnell ging alles und so tief war der Schnitt. Kurz hörte er ein Geräusch wie von einem Springbrunnen, aber Marcos Gehirn assoziierte es nicht mit dem Schwall seines eigenen Blutes, das auf den kalten Marmorboden plätscherte.
Dann knickten seine Knie ein und der große Mann stürzte, sein Gesicht schlug gegen die Steinbrüstung, doch er fühlte nichts, sah nichts. Die mitternächtliche Schwärze des verlassenen Bahnhofs drang in sein Gehirn wie schwarzer Nebel, und das war es dann.
Mickey Kee wischte die 20-Zentimeter-Klinge am Hemd des Toten ab, klappte sie mit seiner behandschuhten Hand ein und glitt genauso leise, wie er heraufgekommen war, wieder die dunkle Treppe hinab.
Kapitel 35
Das grünlich-trübe Schimmern im Korridor hinter der Haupttreppe wurde deutlich heller, als Hansen, Brubaker und Myers in die runde Halle traten. Das Umgebungslicht, das durch die Fenster der Turmräume
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