Joe Kurtz 02 - Bitterkalt
über ihnen ins Gebäude drang, durchzog den mit Schutt und Abfall übersäten Raum mit grünweißer Statik und geisterhaft leuchtenden Schatten.
Plötzlich erklang Joe Kurtz’ Stimme – eindeutig als Kurtz’ Stimme erkennbar – von der anderen Seite der Halle. »Hansen. Sind Sie das? Ich kann Sie nicht sehen.«
»Da!«, rief Brubaker laut.
Direkt gegenüber, vielleicht 20 Meter entfernt an der Westwand – eine menschliche Gestalt, stehend, hinter einer Bank, sie drehte sich, als würde sie nach der Quelle des Rufs suchen. Hansen erkannte das helle Leuchten eines Metallkästchens in der Linken des Mannes.
»Nicht schießen!«, brüllte Hansen, aber es war bereits zu spät. Brubaker hatte mit dem Automatikgewehr das Feuer eröffnet. Sofort wirbelte auch Myers herum und tat es ihm gleich.
Gottes Wille geschehe!, dachte Hansen. Er stellte die AR-15 auf Vollautomatik und drückte ab. Das Mündungsfeuer blendete ihn durch sein Nachtsichtgerät. Hansen schloss die Augen, um die Nachbilder auf der Netzhaut abzuschütteln, und hörte, wie der Rundbau von den Schüssen und letzten Querschlägern widerhallte.
»Wir haben ihn erwischt«, triumphierte Brubaker. Der Detective rannte quer durch den offenen Rundbau dorthin, wo der Mann über der Bank zusammengesackt war. Myers folgte ihm.
Hansen kniete sich hin und wartete auf die unvermeidlichen Schüsse, die von einer oder mehrerer der Zwischenetagen über ihnen kommen würden. Kurtz war zu gerissen, um sich so einfach erledigen zu lassen. Oder? Es konnte nur ein Hinterhalt sein.
Keine Schüsse.
Hansen musterte die dunkelsten der Schatten unter der Zwischenetage, während er mit äußerster Wachsamkeit den Rundbau durchquerte, sich dabei dicht an der Wand hielt, das Gewehr auf jede Sitzbank und jeden eingestürzten Verkaufsstand gerichtet, der einem Mann Deckung für einen Hinterhalt bieten könnte.
Nichts.
»Er ist tot!«, verkündete Myers. Die Stimme des Dicken hallte laut durch den Saal.
»Ja, aber wer zur Hölle ist das?«, fragte Brubaker. »Ich kann sein Gesicht mit diesen Scheißdingern nicht erkennen.«
Hansen war noch fünf Meter von den beiden Polizisten und der Leiche entfernt, als Brubakers Taschenlampe wie eine explodierende Phosphorbombe in seinem Nachtsichtgerät aufflammte.
Hansen suchte hinter einer umgestürzten Bank Deckung und wartete auf Schüsse von oben.
Nichts.
Er klappte das Visier von den Augen weg und starrte auf die Stelle, an der Brubaker seine Taschenlampe wild hin und her schwang.
Der Mann in der dunklen Jacke war mausetot – er hatte mindestens drei Schüsse in die Brust und einen in den Hals abbekommen. Aber es war nicht Kurtz. Jemand hatte ihn mit Handschellen an ein Wandrohr gefesselt. Er hing immer noch halb daran, sein Oberkörper lag auf einer Bank. Hansen konnte sein Gesicht erkennen. Die Augen der Leiche waren vor Angst und Entsetzen weit aufgerissen. Klebeband verschloss seinen Mund und wickelte sich mehrere Male um seinen Kopf. James B. Hansens Titankästchen war mit dem gleichen Klebeband sorgfältig an der linken Hand des Mannes befestigt worden.
Myers zog dem Toten die Brieftasche aus der Jacke. Hansen duckte sich in Erwartung einer Explosion.
»Donald Lee Rafferty«, las Myers. »1016 Locust Lane, Lockport. Er ist Organspender.«
Brubaker lachte.
»Wer zur Hölle ist Donald Lee Rafferty?«, flüsterte Myers. Den beiden Polizisten wurde allmählich klar, dass sie hier mitten auf dem Präsentierteller standen.
Brubaker knipste seine Taschenlampe aus. Hansen hörte, wie die beiden sich wieder die Visiere mit den Nachtsichtgeräten vor das Gesicht klappten.
In dem grünen Leuchten watschelte Hansen im Entengang zu dem Trio hinüber, zog die linke Hand des Toten über die Bank und öffnete das Titankästchen. Es war leer.
Was ist das denn für ein blöder Scherz? Hansen wusste genau, wer Donald Rafferty war, wusste, dass seine adoptierte Tochter im Krankenhaus lag, und kannte die Verbindung zu Joe Kurtz und zu Kurtz’ toter Partnerin. Doch nichts davon ergab einen Sinn. Wenn Kurtz auf das Geld scharf war, warum dann diese Spielchen? Wenn Kurtz vorhatte, ihn zu töten, warum diese Komplikationen? Falls Kurtz ebenfalls ein Nachtsichtgerät trug, wäre es für ihn trotzdem ein Ding der Unmöglichkeit, die Polizisten hier im Rundbau auseinanderzuhalten. Kurtz hätte schießen können, als sie den Turm betraten.
Ob er überhaupt noch hier war?
Hansen spürte plötzlich, wie die brutale Kälte dieses Ortes in
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