Joe - Liebe Top Secret
erklärte er und hoffte beinahe, sie würde das Thema jetzt fallen lassen. Nur beinahe.
Sie tat es nicht. „New York City“, wiederholte sie. „Ich habe nie dort gelebt, war aber ein paarmal da. An den ersten Besuch kann ich mich noch gut erinnern. Ich war noch ein Kind. Überall waren Lichter, Musik und Broadwaymusicals, fabelhaftes Essen und Leute , überall Leute.“
„Ich habe am Broadway keine Stücke gesehen“, erwiderte Joe nüchtern. „Obwohl ich mich, als ich zehn war, nachts aus dem Haus geschlichen habe und in der Theatergegend herumlungerte, um jemand Berühmtes zu sehen. Ich habe mir Autogramme geben lassen und sie dann für schnelles Geld verkauft.“
„Ihre Eltern waren wahrscheinlich begeistert . Ein Zehnjähriger, allein in New York City …?“
„Meine Mutter war gewöhnlich zu betrunken, um zu merken, dass ich weg war“, sagte Joe. „Und wenn sie es mitbekam, war es ihr egal.“
Veronica wich seinem Blick aus und sah zu Boden. „Oh.“
„Genau“, erwiderte Joe. „Oh.“
Sie spielte einen Moment lang mit ihrem Haar, und dann überraschte sie ihn. Sie hob den Blick, sah ihm offen in die Augen und lächelte. Es war ein Lächeln, in dem auch Mitgefühl für den Jungen lag, der er gewesen war. „Ich vermute, da haben Sie dieses Selbstvertrauen her. Und Ihr Selbstbewusstsein.“
„Selbstvertrauen, vielleicht. Aber ich bin damit groß geworden, dass mir jeder sagte, ich sei nicht gut genug“, antwortete Joe. „Nein, das stimmt nicht. Nicht jeder. Frank O’Riley nicht.“ Er schüttelte den Kopf und lachte. „Er war dieser gemeine alte Typ, der in einer schäbigen Erdgeschosswohnung in einem dieser Mietshäuser beim Fluss wohnte. Er hatte ein Holzbein und ein Glasauge, und alle Kinder hatten eine Sch…schreckliche Angst vor ihm, außer mir. Ich war der härteste, coolste Junge in der Nachbarschaft, zumindest für die unter Zwölfjährigen.“
Joe erzählte weiter: „O’Riley hatte einen Garten, es war wirklich nur ein Beet. Kann nicht größer als drei mal ein Meter gewesen sein. Er pflanzte immer irgendetwas an, Blumen, Gemüse, da wuchs immer irgendetwas. Und ich bin über den verrosteten Zaun geklettert, nur um zu beweisen, dass ich keine Angst vor dem alten Mann hatte.“
Er lächelte. „Ich wollte auf seinen Blumen herumtrampeln. Aber als ich erst mal im Garten war, konnte ich es nicht tun. Sie waren einfach so verdammt hübsch. All die Farben. Farben, die ich mir nicht einmal hatte vorstellen können. Stattdessen habe ich mich nur hingesetzt und sie angesehen.
Der alte Frank kam heraus und hat mir gesagt, dass seine Pistole geladen sei und er mir Feuer unter dem Hintern machen würde“, fuhr Joe fort. „Aber da ich offenbar auch ein Naturliebhaber war, hat er mir stattdessen ein Glas Limonade gebracht.“
Warum erzählte er ihr das alles? Blue war der einzige Mensch, dem gegenüber er Frank O’Riley je erwähnt hatte, und nicht einmal Blue hatte er in so viele Einzelheiten eingeweiht. Die Freundschaft mit dem alten O’Riley war die einzige schöne Kindheitserinnerung, die Joe hatte. Chief Frank O’Riley, US Navy, im Ruhestand. Und seine kaum bewohnbare Erdgeschosswohnung war zu Joes Versteck geworden. Der Ort, wo er unterschlüpfte, wenn das Leben zu Hause unerträglich wurde.
Und plötzlich erkannte er, warum er Veronica von Frank erzählte, dem einzigen Freund aus seiner Kinderzeit, seinem einzigen Vorbild. Diese Frau sollte wissen, wo er herkam, wer er wirklich war. Und er wollte erfahren, wie sie darauf reagierte. Ob sie erkannte, welche wichtige Rolle der alte Frank in seinem Leben gespielt hatte, oder ob sie nur gleichgültig und desinteressiert die Schultern zuckte.
„Frank war ein Matrose“, erklärte er ihr. „Stahlhart. Er konnte fluchen wie kein anderer. Im Zweiten Weltkrieg war er als Kampfschwimmer im Pazifik eingesetzt worden. Er war eines der ersten Mitglieder des Underwater Demolition Teams, aus dem später die SEALs hervorgegangen sind. Er war rau und ungehobelt, aber er hat mir immer die Tür aufgemacht. Im Gegenzug für die Geschichten, die er mir erzählt hat, habe ich ihm beim Unkrautjäten geholfen.“
Veronica hörte ihm aufmerksam zu, deshalb fuhr er fort. „Während mir jeder andere sagte, ich würde im Gefängnis enden oder schlimmer, hat mir Frank O’Riley vorausgesagt, dass ich für ein Leben als Navy SEAL bestimmt bin – weil sowohl sie als auch ich zu den Besten der Besten gehörten.“
„Er hatte recht“, murmelte
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