Joe - Liebe Top Secret
schlechter. Sie übt ihren Hofknicks seit Monaten, aber letzte Nacht …“ Wieder räusperte sie sich. „Der Tumor schränkt die motorischen Funktionen immer mehr ein, und sie kann nicht mehr aufstehen.“
Joe fluchte lange und laut, während die Limousine auf dem Parkplatz vor dem Hospiz stehen blieb.
Es war ein sauberes weißes Gebäude mit vielen Fenstern. Wunderschöne Blumen wuchsen in der achtsam gepflegten Gartenanlage. Inmitten des Beetes stand eine Marienstatue, die ebenfalls weiß schimmerte. Es war schön anzusehen, so friedlich und heiter. Aber drinnen … Im Gebäude waren Kinder, die alle an Krebs sterben würden.
„Was soll ich einem Kind sagen, das sterben muss?“, fragte Joe mit heiserer Stimme.
„Ich weiß es nicht“, gab Veronica zu. „Ich gehe mit Ihnen …“
„Auf keinen Fall.“ Joe schüttelte den Kopf.
„Joe …“
„Ich habe Nein gesagt. Ich bringe Ihr Leben nicht in Gefahr, verdammt noch mal!“
Veronica legte eine Hand auf seinen Arm und wartete, bis er sie ansah. „Manche Dinge sind das Risiko wert.“
Cindy Kaye war klein, und sie war so dünn und schwach. Sie sah wie eine unterernährte Sechsjährige aus, nicht wie eine Zehnjährige. Ihr langes braunes Haar war frisch gewaschen, und sie trug eine pinkfarbene Schleife darin. Sie lag auf dem Bettüberwurf und trug ein pinkfarbenes Rüschenkleid mit vielen Verzierungen und Spitze. Ihre Beine, die in einer weißen Strumpfhose steckten, wirkten wie zwei dünne Äste. Sie trug weiße Ballerinaschuhe an den schmalen Füßen.
Dem kleinen Mädchen stiegen Tränen in die Augen, als Joe das Zimmer betrat und sich tief verbeugte.
„Mylady“, sagte er in Tedrics unverwechselbarem Akzent. Ohne das geringste Zögern ging er zu Cindy, die von einer Menge Schläuche, Infusionen und medizinischer Technik umgeben war. Er setzte sich auf die Bettkante und hob Cindys Hand an seine Lippen. „Es ist mir eine große Ehre, dich endlich kennenzulernen. Deine Briefe haben viel Freude und Sonnenschein in mein Leben gebracht.“
„Ich wollte für dich einen Knicks machen“, sagte Cindy. Ihre Stimme zitterte, sie war kaum zu verstehen.
„Als meine Schwester, Prinzessin Wila, zwölf war“, sagte Joe und lehnte sich vor, als würde er ihr ein großes Geheimnis anvertrauen, „hat sie sich Rücken und Nacken bei einem Skiunfall verletzt. Genau wie du musste sie das Bett hüten. Unsere Großtante, die Gräfin von Mailand, hat ihr beigebracht, wie man in so einer Situation die Etikette wahrt. Die Gräfin hat ihr gezeigt, wie man mit dem Augenlid knickst.“
Schweigend wartete Cindy darauf, dass er weiterredete.
„Schließ die Augen“, befahl Joe dem kleinen Mädchen. „Jetzt zähl bis drei, und dann mach sie wieder auf.“
Cindy tat wie ihr geheißen.
„Ausgezeichnet“, erklärte Joe. „Du musst königliches Blut in den Adern haben, wenn du so vornehm mit den Augen knicksen kannst, obwohl du es zum ersten Mal tust.“
Cindy schüttelte den Kopf, um ihre Mundwinkel zeichnete sich ein Lächeln ab.
„Kein königliches Blut? Ich glaube es nicht“, sagte Joe und erwiderte ihr Lächeln. „Dein Kleid ist wunderschön, Cindy.“
„Ich habe es extra für dich ausgesucht“, erzählte sie.
Joe musste sich vorbeugen, um sie zu verstehen. Er hob den Blick und sah die Frau an, die neben dem Bett saß: Cindys Mutter. Sie lächelte ihn freundlich, traurig und dankbar zugleich an, und er musste den Blick abwenden. Ihre Tochter, ihre kostbare schöne Tochter starb. Joe hatte sich immer für einen harten Kerl gehalten. Aber er war nicht sicher, ob er stark genug wäre, Tag für Tag am Bett seines Kindes zu sitzen, wenn es im Sterben lag. Man musste die Frustration, die Hilflosigkeit und den tief schwelenden Zorn verbergen und stattdessen tröstend lächeln und seine friedvolle, stille und ermutigende Liebe geben.
Er verspürte einen Anflug dieser Frustration und dieses Zorns wie einen Wirbelsturm tosend in sich, sodass er beinahe Magenschmerzen bekam. Irgendwie gelang es ihm, weiterzulächeln. „Ich fühlte mich geehrt“, sagte er zu Cindy.
„Sprichst du Ustanzisch?“, fragte Cindy.
Joe schüttelte den Kopf. „In Ustanzien sprechen wir Französisch.“
„Je parle un peu français“, brachte Cindy undeutlich hervor.
Oh Gott, dachte Veronica. Was nun?
„Très bien“, erwiderte Joe ruhig. „Sehr gut.“
Veronica war erleichtert. Joe konnte auch ein bisschen Französisch. Gott sei Dank. Es hätte eine echte Katastrophe sein
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