Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
verschlingen…
7
Hinterher schämte Joel sich.
Der Barfußmann glaubte wahrscheinlich, daß er zu denselben Leuten wie Simon Urväder gehörte. Zu den Verrückten.
»Um Himmels willen, was machst du denn da?« hatte der Barfußmann gerufen. »Willst du mittenrein in den Heizkessel gehen?« Er hatte Joel am Jackenkragen gepackt und ihn zur Seite gerissen. »Wenn du in den Kessel fällst, kann dir niemand mehr helfen«, fuhr der Barfußmann fort. »Hast du nicht gesehen, daß die Luken offenstanden?« Natürlich hatte Joel es gesehen. Er hatte ein Gefühl gehabt, als stände er vor einem hungrigen Raubtier, das seinen Rachen mit tausend brennenden Zungen aufsperrte. Und der Rachen hatte ihn angezogen.
»Was ist los mit dir, Junge«, sagte der Barfußmann und sah ihn bekümmert an. »Hat dir niemand beigebracht, daß Feuer gefährlich ist?«
»Warum gehst du barfuß?« fragte Joel.
Manchmal war es das beste, man antwortete, indem man eine Gegenfrage stellte.
»Es ist so warm im Heizungsraum«, sagte der Barfußmann. »In den Schuhen schwellen die Füße an. Da lauf ich lieber barfuß. Wie heißt du übrigens?«
»Samuel«, sagte Joel.
Der Barfußmann lächelte.
»David und Samuel«, sagte er. »Man merkt, daß ihr Brüder seid.«
Joel sah sich in der Unterwelt um. Der große Heizkessel stand mitten in einem großen Raum. Aus Leitungen und Ventilen zischte und dampfte es.
Das Raubtier in der Unterwelt, dachte Joel. Hier wird es gefangengehalten.
»Wohin geht all diese Wärme?« fragte er. Er mußte rufen, damit der Barfußmann ihn hörte. Der war gerade dabei, große Holzkloben in den Rachen des Raubtiers zu werfen.
»Zum Krankenhaus und Pfarrhof und zum Altersheim und dem Rathaus und vielen anderen Häusern«, brüllte er zurück.
»Wie heißt er?« rief Joel.
Der Barfußmann richtete sich auf und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. »Heißt?« fragte er. »Ich heiß Jan Nilson.«
»Ich mein den Heizkessel«, sagte Joel.
»Heizkessel haben keine Namen«, sagte der Barfußmann. »Oder hast du einen Vorschlag?«
Joel dachte nach. Der Heizkessel war wie ein Drache. Ein feuerspuckendes Raubtier.
»Herrscher des Feuers«, sagte er.
Der Barfußmann nickte. »Ein guter Name«, sagte er. »Herrscher des Feuers.«
Dann warf er noch ein paar Holzklötze ins Feuer und schloß die Luken. Er gab Joel ein Zeichen, ihm zu folgen, und führte ihn an sich schlangelnden Rohrleitungen entlang und kam zu einer weiteren Stahltür. Die öffnete er, indem er an einem dicken Eisengriff drehte. Die Tür führte in einen langen Korridor, der von einigen Glühlampen beleuchtet wurde. Die Luft war rauh und feucht, und Joel fragte sich, ob der Barfußmann keine kalten Füße bekam.
Er blieb plötzlich stehen. »Weißt du, wo wir hier sind?« Joel schüttelte den Kopf.
»Genau unter der Kirche«, sagte der Barfußmann. »Genau unter dem Fußboden der Kirche.«
Joel sah hinauf zur Decke des steinernen Korridors. War das wirklich möglich? Die ganze Kirche über seinem Kopf? Wenn die Decke nun einmal einstürzte! Dann würde er nicht auf dem Friedhof, sondern in der Kirche selbst begraben werden…
»Du hast doch keine Angst?« sagte der Barfußmann. »Das stürzt nicht zusammen.«
Sie gingen weiter. Der Korridor schien kein Ende zu nehmen. Es ging um scharfe Ecken, manchmal abwärts, manchmal aufwärts.
Wohin gehen wir, dachte Joel.
Schließlich blieb der Barfußmann vor einer weiteren Stahltür stehen.
»Kloake Eins« las Joel auf einem Schild.
Der Barfußmann öffnete die Tür. Joel betrat einen Raum, der voller Werkzeug und zerlegter Maschinen war. »Er ist nicht da«, sagte der Barfußmann.
»Schade«, sagte Joel und dachte, wie gut das war. Dann würde der erfundene kleine Bruder nicht entlarvt. »Wahrscheinlich ist er unterwegs und repariert ein Rohr«, fuhr der Barfußmann fort. »Aber wenn du willst, kannst du in meiner Kajüte warten.«
Kajüte! Gab es denn Kajüten in der Unterwelt? Joel hatte nur von Kajüten an Bord von Schiffen gehört.
Er folgte dem Barfußmann auf demselben Weg, den sie gekommen waren.
»Wo sind wir jetzt?« fragte Joel, als sie um eine Ecke bogen.
Der Barfußmann lächelte.
»Genau zwischen dem Schuhgeschäft und Leanders Konditorei«, antwortete er.
Er zeigte auf eine Eisenleiter, die in der Steinwand verankert war.
»Wenn du hier raufkletterst und den Deckel öffnest, kommst du bei der Konditorei raus«, sagte er. In der Unterwelt zu sein, ist ein großes Erlebnis,
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