Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
Schnurrhaare fauchten.
Er könnte in ein Loch hinuntersteigen und verschwinden. Häuser und Straßen und Menschen wären über ihm. Vielleicht gab es sogar einen Tunnel unter der Schule? Unter Frau Nederströms Füßen?
Er sah sich um. Traute er sich, den Deckel anzuheben und hinunterzuklettern? Es waren zu viele Menschen da, die ihn sehen konnten. Die Unterwelt besuchte man nur, wenn niemand sah, was man tat.
Er fuhr weiter zum Rathaus, das oberhalb des Pfarrhofs lag, an einem Abhang zum Fluß. Er stellte sein Rad in dem Gestell mit dem Schild »Für Rathausbesucher« ab. Dann öffnete er die Tür und ging hinein.
Er stand in einer großen Halle mit Steinfußboden. Eine breite Treppe führte zum ersten Stock hinauf. An den Wänden hingen Bilder mit strengen Männern, die ihn mit gerunzelter Stirn ansahen. Er lauschte. Es war still. In einem kleinen Raum mit einer Glasscheibe davor hing ein Telefonhörer an einer Schnur und schaukelte langsam hin und her. Joel ging näher und sah, daß es die Telefonzentrale war.
Langsam bekam er ein Gefühl, als befände er sich auf einem Geisterschiff. Jemand hatte den Telefonhörer losgelassen und sich über Bord gestürzt.
Er lauschte wieder. Immer noch war es ganz still. Wenn er sich über den Steinfußboden bewegte, war nur das leise Quietschen seiner Gummistiefel zu hören. Er kam in einen Korridor. An einer angelehnten Tür hing ein Schild, auf dem »Bürovorsteher« stand. Joel guckte hinein. Aber das Zimmer war leer. Er ging weiter. Die nächste Tür war geschlossen. Und die nächste auch. Dann kam eine weit offene Tür. »Gemeindeingenieur« stand auf dem Schild. Joel betrat das Zimmer. Die Wände waren mit Bücherregalen und Kartenständern bedeckt. Auf dem Schreibtisch lag eine große Karte, die wie eine Seekarte aussah. Joel ging näher und guckte. Es war die Zeichnung von einem Haus. Joel drehte sich um und wollte gehen. Da stand plötzlich ein Mann in der Tür. Joel zuckte zusammen.
Der Mann trug einen dunkelblauen Arbeitsanzug. Joel bemerkte, daß der Mann barfuß war.
»Ist der Ingenieur nicht da?« fragte der Mann. »Nur ich«, sagte Joel, »ich hab mich verlaufen.«
Plötzlich schlug sich der Mann im blauen Arbeitsanzug gegen die Stirn.
Wieder zuckte Joel zusammen.
»Die haben ja eine Besprechung«, sagte der Mann. »Die ganze Gemeindeverwaltung. Das hab ich ganz vergessen.«
Der Barfußmann sah Joel an. Er wirkte keineswegs unfreundlich.
»Du hast dich verlaufen?« fragte er. »Wen suchst du denn?«
»David«, sagte Joel.
»David«, sagte der Barfußmann. »Da hast du dich wahrhaftig verlaufen. Komm mal mit mir. Was willst du übrigens von ihm?«
Was sollte Joel antworten?
Jetzt saß er ordentlich in der Klemme. Der Barfußmann versperrte die Türöffnung. Er konnte sich nicht an ihm vorbeidrücken.
Plötzlich leuchtete das Gesicht des Barfußmannes auf. Joel sah, daß ihm mehrere Zähne fehlten.
»Jetzt weiß ich«, sagte der Barfußmann. »Du bist Davids kleiner Bruder.«
»Nein«, sagte Joel.
Der Barfußmann hörte seine Antwort nicht. »Davids kleiner Bruder«, sagte er. »Komm mit.«
Er nahm Joel am Arm und schob ihn vor sich her. Er hatte nicht zu fest und nicht unfreundlich zugepackt. Aber Joel konnte sich trotzdem nicht befreien.
Er bekam es mit der Angst zu tun. Dem Käsemann würde es vielleicht gar nicht gefallen, wenn da einer kam, der so tat, als wäre er sein kleiner Bruder.
»Ich glaub, hier drinnen ist er«, sagte der Barfußmann. Sie waren in einem dunklen Keller angekommen und vor einer großen Stahltür stehengeblieben. Joel hörte Getöse hinter der Tür.
Der Barfußmann kurbelte an einem Rad, und langsam glitt die Tür auf. Das Getöse nahm zu.
Jetzt hatte Joel wirklich Angst. Er hätte davonlaufen können in diesem Augenblick. Aber er tat es nicht. Er war gefangen in seiner eigenen Angst.
Der Barfußmann stieß die große Stahltür auf. Das Getöse wurde ohrenbetäubend.
»Ich glaub, hier drinnen ist dein Bruder!« rief er, um den Lärm zu übertönen.
Gleichzeitig wurde es warm. Die Luft, die ihnen entgegenschlug, war heiß wie ein Sommertag.
»Komm«, sagte der Barfußmann und schob Joel vor sich her.
Joel blieb auf der Schwelle stehen.
Der Raum vor ihm stand in Flammen. Riesige Flammen heulten und tosten.
Der Barfußmann schob ihn vor sich her, geradewegs auf das Feuer zu.
Plötzlich fiel Joel sein Traum ein.
Der Traum, in dem er verbrannt war.
Vor ihm wuchsen die Flammen.
Bald würde ihn die Unterwelt
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