Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
leid.
Aber nur ein bißchen. Immerhin war sie dabeigewesen, als jemand eine gute Tat vollbrachte.
Und vielleicht würde sie glauben, es sei ein Mirakel? Daß es wirklich der Herrscher der Nacht gewesen war, der die zwölf Telefongespräche geführt hatte und dann unbemerkt verschwunden war…
12
Am nächsten Abend folgte Joel den Spuren des Schwarzen Panthers. Das war ein Schattentier, das nur er kannte.
Der Schwarze Panther lebte in einer Höhle unter der Eisenbahnbrücke. Wenn ein Zug über die Brücke klapperte, konnte man den Panther brüllen hören.
Am Tag nach der Rache am Käsemann war Joel der aufmerksamste Schüler der ganzen Klasse. Nur einmal, als ihm einfiel, daß Frau Nederström vielleicht in ihren wollenen Unterhosen und dem langen Rock über Zäune kletterte, da mußte er kichern. Das Kichern blähte sich in ihm auf zu einem Lachsturm. Aber Frau Nederström sah ihn streng an, und er schaffte es, den Sturm vorm Losbrechen zu ersticken.
Joel tat alles Erdenkliche, um so zu sein wie die anderen. Er wollte nicht auffallen. Kein Mirakelmensch sein. Jetzt wollte er nur einer von vielen in der Klasse sein. Abends aß er bei Sara. Ganz nebenher fragte er, was die Biertrinker denn so tagsüber in der Bierstube geredet hätten.
»Ich hör da doch nicht hin, was die so quatschen«, sagte Sara. »Dann würde ich ja Ohrenschmerzen kriegen. Es reicht schon, daß mir die Füße von dem Gerenne weh tun.«
»Über irgendwas müssen sie doch reden«, beharrte Joel. Er wollte es wissen, und er erfuhr es.
»Offenbar hat irgendein Verrückter heute nacht einen Haufen Leute angerufen und aus dem Schlaf gerissen«, sagte Sara. »Und niemand weiß so recht, wie es zugegangen ist. Aber ich glaub fast, daß Asta vom Telegrafenamt ein bißchen zu oft am Portwein genippt hat.« Joel spürte, wie ihm heiß wurde. Er hatte also nicht geträumt! Er war in der Nacht wirklich im Telegrafenamt gewesen!
»Ist ja komisch«, sagte er vorsichtig und kaute am Kalbssteak.
»Wie Asta so redet«, sagte Sara. »Daran ist nichts Komisches.«
Als Joel nach Hause ging, fühlte er sich seltsam befreit. Jetzt konnte er endlich wie immer werden. Er setzte sich an den Küchentisch und schrieb auf die letzte innere Umschlagseite von seinem Tagebuch:
»Der Geheimbund Herrscher der Unterwelt hat seinen Auftrag erfüllt. Der Käsemann ist besiegt.« Dann war das Buch vollgeschrieben.
Jetzt mußte er ein neues Tagebuch kaufen. Darin würde er aufschreiben, was bis jetzt noch nicht passiert war. Bald bin ich zwölf Jahre alt, dachte er und stellte sich vor den gesprungenen Spiegel. Dann sind es nur noch drei Jahre, bis ich fünfzehn bin.
Er fand, er sah älter aus. Älter als gestern. Die Augen waren nicht mehr so aufgerissen. Die Haare nicht so zottelig. »Ich war in der Unterwelt«, sagte er zum Spiegel. »Ich hab den Käsemann besiegt.«
Dann stürmte er zu Gertrud. Als er wie eine Lokomotive über die Brücke hinwegdonnerte, wagte der Schwarze Panther nicht zu brüllen. Wer traut sich schon, einen Mann anzubrüllen, der den Käsemann besiegt hat? Vor Gertruds Gartenpforte blieb er stehen und holte Luft.
Jetzt würde er alles erzählen. Die ganze Geschichte von Anfang bis Ende. Und er hatte überhaupt keine Angst. Gertrud würde ihn verstehen. Sie würde bestimmt über alles lachen, wenn sie es erst einmal verstand. Und was er im Telegrafenamt getan hatte, das würde ihr imponieren. Joel zweifelte keinen Augenblick.
Er sah zu den Sternen hinauf. Dort funkelten Millionen Katzenaugen. Ihm wurde fast schwindlig, als er daran dachte, wie viele Sterne es gab. Stimmte es denn wirklich? Daß es mehr Sterne als Ameisen in einem Ameisenhaufen gab?
An diesem kalten Septemberabend war ihm fast ein wenig feierlich zumute. Bald war der Monat vorbei. Er würde nie wiederkommen. Dann war es Oktober, und dann würde der erste schwere Schnee fallen.
Bevor der schmolz, würde er zwölf werden. Zwölf Jahre alt. Das ganze Ziffernblatt einer Uhr hatte er jetzt gelebt. Ein merkwürdiges Gefühl. Feierlich. Fast, als ob er die Zukunft eingeholt hätte.
In weiter Ferne hörte er Simon Urväders Laster. Dann öffnete er die Gartenpforte, ging ins Haus und erzählte Gertrud die ganze Geschichte…
Weitere Kostenlose Bücher