Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
»Ich hab geträumt, ich verbrenne.«
Samuel runzelte die Stirn. Joel wußte, daß Samuel es nicht mochte, wenn er Alpträume hatte. Vielleicht kam das daher, weil Samuel selbst manchmal unheimliche Träume hatte? Mehrere Male war es geschehen, daß Joel wach wurde, weil Samuel im Schlaf rief und schrie. Irgendwann einmal wollte Joel ihn nach seinen Träumen fragen. Das hatte er auf die letzte Seite seines Logbuchs geschrieben, wo er alle Fragen niedergeschrieben hatte, auf die er immer noch Antwort haben wollte.
Aber an diesem Morgen war alles gutgegangen. Joel war sehr erleichtert, als er begriff, daß er nur geträumt hatte. Der Brand war keine Wirklichkeit. Gewöhnlich war er schlecht gelaunt, wenn er aufwachte und aufstehen mußte. Das Linoleum unter seinen nackten Füßen war viel zu kalt. Außerdem fand er nie seine Sachen. Die Strümpfe waren verkehrt herum, und die Hemdenknöpfe paßten nicht in ihre Löcher. Joel war der Meinung, daß es bösartige Menschen sein mußten, die Kleider für Kinder nähten. Wie konnte es sonst sein, daß nichts paßte, wenn man es eilig hatte und es kalt im Zimmer war? Aber an diesem Morgen ging alles viel leichter. Und als er in die Küche kam, lagen zwei Schachteln mit Hustenbonbons neben seiner Kakaotasse.
»Die sind von Sara«, sagte Samuel, der gerade sein struppiges Haar vor dem gesprungenen Rasierspiegel kämmte.
Zwei Schachteln Hustenbonbons, nachdem man geträumt hatte, man verbrenne! An einem Montagmorgen!
Joel dachte, das könne nur ein guter Tag werden. Und noch besser wurde es, als er den Deckel geöffnet und die beiden Sammelbilder herausgenommen hatte. Es waren Fußballspieler, die ihm noch fehlten. Joel sammelte Fußballspieler. Sonst nichts. Er konnte furchtbar wütend werden, wenn er sich eine Schachtel Bonbons gekauft hatte und statt eines Fußballspielers einen Ringkämpfer fand. Das war das allerschlimmste für ihn. Fette Ringkämpfer, die immer Svensson hießen. Und fast immer Rune mit Vornamen.
Aber diesmal kriegte er zwei Fußballspieler auf einmal.
»Geh auf einen Sprung in die Bierstube, wenn die Schule aus ist«, sagte Samuel, während er seine Jacke anzog. »Dann freut Sara sich.«
»Wofür hab ich die Bonbons gekriegt?« fragte Joel. »Sie mag dich«, sagte Samuel. »Das weißt du doch?« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Vergiß nicht, Kartoffeln zu kaufen«, sagte er, »und Milch.« »Mach ich«, antwortete Joel.
Er hörte es gern, daß Sara ihn mochte. Obwohl sie nicht seine Mama war und zu große Brüste hatte und nach Schweiß roch. Das war natürlich nicht genauso gut, wie wenn seine richtige Mama, die Jenny hieß, das gesagt hätte. Aber Jenny war nicht da. Sie war verschwunden. Und solange sie nicht da war, solange Samuel und er sie nicht gefunden hatten, durfte Sara ruhig sagen, daß sie ihn mochte.
Wie üblich döste er so lange über der Kakaotasse, bis er rennen mußte, um noch rechtzeitig zur Schule zu kommen. Frau Nederström hatte es nicht gern, wenn man zu spät kam. War sie richtig böse oder war man zu oft zu spät gekommen, konnte sie einen ins Ohr kneifen, und man mußte mit den Tränen kämpfen. Aber das machte sie nur mit Jungen. Um Mädchen, die zu spät kamen, kümmerte sie sich nicht. Deshalb hatte Joel überlegt, ob es wohl besser gewesen wäre, wenn er ein Mädchen mit Namen Joella Gustafson gewesen wäre.
Er zog seine Jacke an, hängte sich den Ranzen über die Schultern, schloß die Tür ab und legte den Schlüssel unter Samuels Stiefel, die im Treppenhaus standen. Die Treppe schaffte er fast in zweieinhalb Sprüngen, und dann lief er los zur Schule. Er konnte zwischen drei Schulwegen wählen. Jetzt entschied er sich für Blixtens Straße. Die benutzte er nur, wenn er schon sehr spät dran war. Sie war langweilig und grade, und es gab nur eine Abkürzung über den Apothekerhof. Aber sie war am kürzesten.
Er lief, so schnell er konnte, und er schaffte es gerade noch. Frau Nederström wollte eben die Tür schließen, als er angestürzt kam.
»Sehr gut, Joel«, sagte sie, »es ist gut, daß du dich bemühst, pünktlich zu sein.«
Um zwei war die Schule aus. Joel hatte ein zufriedenes Gefühl. Er war nichts gefragt worden, was er nicht beantworten konnte. Außerdem hatten sie Geographie gehabt, und das war sein Lieblingsfach. Er mochte es genauso sehr, wie er Mathematik nicht mochte. Zahlen kapierte er überhaupt nicht.
Es war wie mit den Kleidern. Nur bösartige Menschen konnten Zahlen erfunden
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