Joel 2 - Die Schatten wachsen in der Daemmerung
reden. Aber mit wem sollte er reden?
Mit dem alten Maurer Simon Urväder?
Oder mit Gertrud, die auf der anderen Seite des Flusses wohnte? Und die keine Nase hatte.
Mir fehlt ein Freund, dachte Joel, ein bester Freund. So einen mußte er sich suchen. Das war das wichtigste aller Probleme, die er in diesem Herbst lösen mußte. Man konnte nicht zwölf werden und immer noch keinen richtigen Freund haben.
Er beschloß, noch am selben Abend die nasenlose Gertrud zu besuchen.
Er verließ den Stein, ging nach Hause und setzte die Kartoffeln auf.
Nachdem Samuel und er gegessen hatten, mußte er sagen, daß er weggehen wollte. Er hatte sich gut vorbereitet. »Ich geh für eine Weile zu Eva-Lisa«, sagte er. Samuel ließ die Zeitung sinken, in der er gerade las. »Zu wem?« fragte er. »Eva-Lisa.« »Wer ist das ?«
»Das weißt du doch. Sie geht in meine Klasse. Sie ist die Tochter von der Krankenschwester im Krankenhaus. Die hast du doch getroffen?«
»Ach so, die«, sagte Samuel. »Solltest du nicht lieber zu Hause bleiben?«
»Ich hab doch nicht mal eine Schramme abgekriegt!« Samuel nickte. Dann lächelte er.
»Bleib nicht so lange«, sagte er. »Und geh immer schön auf dem Fußweg.«
»Mach ich«, sagte Joel. »Ich bleib nicht lange. Zwei Stunden höchstens.«
Dann lief er über den Fluß. Die hohen Brückenbogen wölbten sich über seinem Kopf. Er erinnerte sich daran, wie er einmal dort oben gesessen hatte, und Samuel hatte ihn runterholen müssen. Er rannte, so schnell er konnte, über die Brücke.
Vor Gertruds Gartentor mußte er erst mal nach Luft schnappen. Der kalte Herbstwind kratzte in der Brust. In Gertruds Küche brannte Licht. Und er sah, wie sich ihr Schatten auf der Gardine abzeichnete.
Sie war zu Hause. Vielleicht konnte sie ihm helfen, sich etwas Gutes auszudenken, wie er für das Mirakel danken und dadurch quitt mit Gott werden konnte, oder wer das nun gemacht hatte, daß der Ljusdalbus ihn nicht totgefahren hatte. Er öffnete die knarrende Pforte.
Hastig warf er einen Blick hinauf zum sternklaren Himmel.
Aber der Hund war weg.
3
In einem Punkt konnte Joel sicher sein, was Gertrud anging. Daß sie keine Nase hatte.
Aber das war auch alles. Aus Gertrud, die vor langer Zeit ihre Nase bei einer mißlungenen Operation im Krankenhaus verloren hatte, wurde Joel nie richtig klug. Fast alles, was sie tat, war
Das Gegenteil.
Obwohl sie der Freikirche angehörte, wo Hurra-Pelle Pastor war, sah sie nicht aus wie die anderen Kirchentanten. Die gingen schwarz gekleidet und trugen flache Hüte mit einem kleinen schwarzen Netz über der Stirn. Sie liefen in Galoschen herum und hatten immer braune Handtaschen bei sich. Gertrud aber nie. Sie nähte ihre Kleidung selbst. Joel hatte mehrere Abende in ihrer Küche gesessen und zugesehen, wie sie die Nähmaschine trat. Aus alten Kleidern nähte sie neue. Sie konnte zwei Mäntel zerschneiden und einen neuen daraus nähen. Dann probierte sie ihn an, und Joel durfte ihr helfen, die Säume zu stecken. Nie trug sie einen Hut. Statt dessen zog sie sich häufig eine alte Militärpelzmütze über den Kopf. Eine war weißgelb gewesen. Gertrud, die kräftige Farben liebte, hatte sie rot angemalt.
Joel fand, Gertrud war ein anstrengender Mensch. Nie wußte man im voraus, was sie sich einfallen lassen oder was sie sagen würde. Es war gleichzeitig aufregend und kompliziert. Gewisse Streiche, die sie anstellte und an denen er sich beteiligen sollte, machten ihn verlegen. Dann wieder fand er, daß sie der aufregendste Mensch der Welt sei.
Gertrud war erwachsen. Fast dreißig Jahre alt. Sie war fast dreimal so alt wie Joel. Trotzdem konnte sie sich wie ein Kind aufführen. Ein Kind, das sogar noch jünger als Joel war.
Sie war ein erwachsener Kindmensch. Und das war anstrengend.
Joel blieb vor der Küchentür stehen und lauschte. Es kam vor, daß Gertrud traurig war. Dann saß sie auf einem Küchenstuhl und weinte. Sie hatte einen besonderen Weinstuhl, der in der Ecke neben dem Herd stand. Es war, als ob sie eine Schämecke für sich selbst eingerichtet hätte. Joel mochte es nicht, wenn Gertrud weinte. Sie weinte viel zu laut. Obwohl sie keine Bauchschmerzen hatte oder hingefallen war und sich weh getan hatte, klang es, als ob sie Schmerzen hätte.
Wenn man traurig ist, muß man leise weinen, dachte Joel. Man muß so leise weinen, daß einen niemand hört. Nicht heulen, daß die ganze Welt stehenblieb. Das durfte man nur, wenn einem was weh tat. Aber nicht, wenn
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