Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
geschafft.
Er ging ins Haus und stieg die Treppen hinauf. Vor ihrer Tür strich er sich durchs Haar, bis es senkrecht stand. Joel hatte einen Bürstenhaarschnitt und da mussten die Haare stehen. Das Problem war nur, dass er vorn an der Stirn einen Wirbel hatte. Dort breitete sich das Haar aus wie ein Fächer. Samuel hatte nicht so einen Wirbel. Also musste er ihn von Mama Jenny geerbt haben. Einen Fächer an der Stirn.
Er merkte, dass er nervös war. Fragte sich, ob sie, die Mattsson hieß, auch so eine war wie Gertrud, die Gedanken lesen konnte. Und wenn sie nun die Tür öffnete und durchsichtige Schleier trug und nackt darunter war? Was würde er dann machen? So tun, als ob nichts wäre? Die Wohnung betreten und sie bitten, in dem Katalog zu blättern, und dann die Bestellung aufnehmen? Oder sollte er das tun, wovon Samuel manchmal redete?
»Bald bist du so alt, dass du Mädchen in die Arme nimmst.«
Was meinte er eigentlich damit? Sollte er sie hochheben? Samuel erklärte immer sehr schlecht, was er meinte. Noch schwieriger wurde es, wenn Joel daran dachte, was Samuel sonst noch sagte.
»Pass bloß auf, dass sie nicht schwanger werden. Dann sitzt du in der Falle.«
Manchmal meinte Joel, er wüsste, wie alles funktioniert. Aber im tiefsten Innern nagte die Sorge, dass er gar nichts wüsste. Dann fürchtete er, alle anderen, nicht zuletzt Otto, wussten, was man wissen musste. Aber manchmal hatte er auch den Verdacht, dass Otto genauso wenig wüsste. Otto redete. Er hatte immer noch nicht begriffen, warum ein Mensch zwei Ohren, aber nur eine Zunge hatte. Damit man mehr zuhörte und weniger redete. Wieder und wieder strich Joel sich durchs Haar. Er konnte nicht mehr warten. Er musste einen Schritt geradewegs ins Ungewisse tun. Es half auch nichts mehr, dass er natürlich inzwischen pinkeln musste.
Er klingelte. Diesmal war aus der Wohnung keine Musik zu hören.
Dann wurde die Tür geöffnet und sie stand vor ihm. Salome Mattsson.
Aber sie war nicht in durchsichtige Schleier gehüllt. Sie trug lange Hosen und eine gestreifte Bluse.
»Du bist jedenfalls pünktlich«, sagte sie.
Sie ließ ihn in den Vorraum. Joel war verlegen und wusste plötzlich überhaupt nicht mehr, was er tun sollte. Sollte er sie hier im Vorraum hochheben? Oder sollte er sie bitten ihre Schleier umzulegen?
»Zieh die Stiefel aus«, sagte sie. »Sonst machst du den Fußboden schmutzig.«
Joel setzte sich auf einen kleinen Hocker und fing an die Schnürsenkel zu lösen. Als er den linken Stiefel auszog, sah er, dass er ein großes Loch in der Socke hatte. Ich hau ab, dachte er, ich kann mich doch nicht mit kaputten Socken zeigen.
»Was treibst du da?«, rief sie aus dem Zimmer. »Ich will gleich was im Radio hören.«
Schnell zog Joel den anderen Stiefel aus und zog das Loch unter den Fuß. Es sah aus, als ob er hinkte, wenn er sich bewegte. Ein letztes Mal strich er sich durch die Stoppelhaare. Dann ging er hinein. Sie saß mit hochgezogenen Beinen in einem Sessel und rauchte. Joel merkte, dass es nach Parfüm roch. Aber nicht nach dem, das Gertrud benutzte. In der Wohnung gab es nur wenige Möbel. Sie lächelte ihm entgegen. Nicht freundlich, nicht unfreundlich.
»Warum stehst du da rum? Du siehst so verloren aus. Du kannst mir ja schon mal den Katalog geben, während du überlegst, wo du dich hinsetzen willst. Wie heißt du noch?«
»Joel«, sagte Joel.
»Wie geht es Allan?«
»Er hat immer noch hohes Fieber. Aber die Schulter tut ihm nicht mehr so weh.«
Sie sah ihn erstaunt an. »Hast du nicht gesagt, es war das Knie?«
»Das Knie und die Schulter«, antwortete Joel rasch. Sie schüttelte den Kopf und begann im Katalog zu blättern. Joel setzte sich auf die äußerste Kante eines Stuhls. Jetzt musste er ziemlich dringend.
Sie blätterte den Katalog durch. Joel saß da und sah sie an. Sie war wirklich sehr schön.
Schon ehe sie den halben Katalog durchgeblättert hatte, beschloss er, dass er sie heiraten würde. »Ist irgendwas besonders gut?«, fragte sie.
Joel hatte keine Zeit gehabt, in den Katalog zu schauen. Er versuchte sich an das letzte Jahr zu erinnern, als er Weihnachtszeitschriften verkauft hatte.
»Vielleicht das Weihnachtsbuch der Mädchen«, sagte er vorsichtig.
Sie antwortete mit einem verächtlichen Schnauben. »Das ist doch was für kleine Kinder.«
Joel machte ihr keine Vorschläge mehr. Er wartete und sah sie an. Jetzt musste er so nötig, dass er die Beine kreuzen und sich anspannen musste, sosehr
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