Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
kam. Samuel trank nie, um fröhlich zu werden. Eher, um nicht so traurig zu sein. »Bleib noch ein bisschen«, sagte die Krähe und versuchte Joels Arm zu greifen. Aber Joel parierte. Das hatte er früher schon erlebt.
Samuel richtete sich unsicher auf. Dann reckte er sich. Joel hatte sich schon abgewandt und war hinausgegangen. Er wollte nicht länger als nötig in dem verrauchten Nebel da drinnen sein.
Auf dem Heimweg sagte Samuel kein Wort. Joel auch nicht. Hin und wieder schwankte Samuel ein wenig, aber niemals so sehr, dass Joel ihn packen musste, damit er nicht umfiel.
Joel versuchte sich vorzustellen, es sei der Kapitän der »Bounty«, der an seiner Seite ging. Aber sosehr er sich auch anstrengte, es war doch nur Samuel. Und sein Rücken schien krummer denn je zu sein.
Als sie nach Hause kamen, ließ Samuel sich schwer auf einen Küchenstuhl fallen.
»Ich konnte nicht anders«, sagte er. »Das mit Sara war nicht gut.«
Joel gab keine Antwort. Er hatte Mühe, Samuel die Stiefel auszuziehen.
»Das soll nicht wieder passieren«, sagte Samuel. Joel gab immer noch keine Antwort. Jetzt hatte er Samuel endlich die Stiefel ausgezogen.
Samuel kochte Kaffee. Das war ein gutes Zeichen, das wusste Joel. Dann wollte er nüchtern werden. Währenddessen holte Joel das Buch, in dem Samuel herumgestrichen hatte. Er setzte sich an den Tisch und sah zu, wie Samuel am Herd wartete, dass der Kaffee fertig wurde.
Samuel setzte sich Joel gegenüber. Er roch nach Schnaps. Joel fand, er sah aus wie ein Tier, das vergessen hatte sich zu rasieren. Wenn es denn Tiere gäbe, die sich rasierten. Samuel trank Kaffee. Joel wusste, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Aber er zögerte nicht, es für sich auszunutzen. Außerdem hatte Samuel Strafe verdient, weil er dauernd Mist machte. »Ist noch Geld für die Stiefel übrig?«, fragte er. Samuel nickte. »Es liegt in der Kommode.«
Es kam vor, dass Samuel log, wenn er ein besonders schlechtes Gewissen hatte. Aber diesmal glaubte Joel ihm. Das machte alles sehr viel leichter. Die Stiefel hatte er jedenfalls nicht versoffen.
Wieder einmal hatte Joel die schwarze Lawine überlebt. »Warum hast du in dem Buch rumgestrichen?«, fragte er. »Weißt du nicht, dass man in geliehenen Büchern nichts anstreichen darf?«
»Ich hab's doch bloß mit Bleistift gemacht«, verteidigte Samuel sich. »Das kann man wegradieren. Aber ich wollte dir was zeigen.«
»Ich hab es schon gelesen«, sagte Joel. »Über Pitcairn Island und die Meuterer, die es dort immer noch gibt.« »Wir sollten mal hinfahren«, sagte Samuel. Und plötzlich kam ein träumerischer Ausdruck in seine blutunterlaufenen Augen. »Nur du und ich.«
»Wollen wir hinrudern?«, fragte Joel. » Oder sollen wir uns auf Baumstämmen hintreiben lassen?«
Samuel schien ihn nicht zu hören. »Wir sollten hinfahren«, wiederholte er. »Vielleicht können wir in einigen Jahren auf der Insel leben?«
»Gibt's da denn eine Schule?«
Samuel hörte immer noch nicht. Er versank immer tiefer in seinen Träumen. »Vielleicht ist es an der Zeit, hier aufzubrechen«, sagte er langsam. »Wir müssen wegziehen von diesem Schnee in den warmen Sand.«
Joel wollte gern glauben, dass Samuel wirklich meinte, was er sagte. Aber er wagte es nicht. Er wagte es nicht, schon wieder enttäuscht zu werden. Wie so viele Male vorher. Samuel würde in diesem Haus am Fluss bleiben und weiter Bäume im Wald schlagen. Vielleicht würde es ihm gelingen, sich einen Weg zu schlage n bis ans Meer? Aber so lange konnte Joel nicht warten. Wenn er es wirklich bis nach Pitcairn Island schaffen wollte, musste er es allein schaffen. Samuel würde weiterhin nur in seinen Träumen reisen. Wahrscheinlich würden sie nie gemeinsam eine Reise unternehmen. Joel konnte nicht in Samuels Träume einsteigen. Und Samuel konnte nicht in Wirklichkeit reisen. So war das nun einmal. Plötzlich sah Joel es ganz klar und deutlich vor sich. Er durfte nicht mehr Kind sein. Zuerst würde der Windhund ihm Küssen beibringen. Dann würde er Rock-König werden und den Winter und den Ort und den Schnee verlassen, der nachts lautlos fiel. Er würde genügend Geld für Samuel dalassen. Aber die Reise nach Pitcairn Island musste er auf eigene Faust machen. Oder mit jemand anderem. Vielleicht mit Sonja Mattsson. Oder mit dem Windhund? Oder mit jemandem, den er nicht kannte. »Ich geh jetzt schlafen«, sagte Joel.
Samuel nickte. »Wir brauchen beide Schlaf«, sagte er. »Morgen Abend bleib ich zu
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