Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
gefallen hätte oder nicht. Sie blieben vorm Schaufenster vom Schuhladen stehen. »Ich krieg neue Stiefel«, sagte Joel.
»Wenn dein Vater das Geld nicht vorher versäuft«, sagte der Windhund.
Joel starrte sie an. Eigentlich müsste er sie schlagen, dachte er.
Oder sie mit Schnee einreiben. Aber er sah, dass es ihr Leid tat. Sie hatte sich die Hand auf den Mund gelegt.
»Ich hab's nicht so gemeint.«
»Warum hast du es dann gesagt?«
»Ich weiß nicht.«
Sie gingen weiter. Joel war eher traurig als böse. Und wenn er böse war, dann war er auf Samuel böse. Der nicht wusste, wie man sich zu benehmen hatte.
»Der Film war eigentlich ziemlich schlecht«, sagte der Windhund.
»Ich hab schon schlechtere Filme gesehen«, sagte Joel. Er ging an ihrer Seite und wartete. Was sie über Samuel gesagt hatte, hatte er nicht vergessen. Aber er wartete darauf, dass sie es ihm beibringen würde. Sie kamen an der Bank und der Apotheke vorbei und am Hof vom Straßenbauamt, der voll von Baggern und Walzen war. »Willst du es mir nicht beibringen?«, fragte Joel.
Der Windhund kicherte. »Hier? Mitten auf der Straße?«
»Was ist schon dabei?«
»Es ist zu kalt.«
»Ich hab Filme gesehen, da haben die Leute am Nordpol gestanden und sich geküsst.«
»Dann fahr doch dahin.« »Wo sollen wir denn hingehen?«
Sie antwortete nicht. Joel merkte, dass sie etwas überlegte, und es war wohl besser, wenn er sich still verhielt und abwartete.
»Morgen ist bei mir niemand zu Hause«, sagte sie. »Dann kannst du mich besuchen. Aber wenn du es jemandem erzählst, dann erzähl ich allen, dass dein Papa säuft.« Joel wollte gerade antworten, da war sie schon verschwunden. Wie ein Pfeil. Sie einholen zu wollen wäre sinnlos. Er machte sich auf den Heimweg. Er freute sich schon auf den nächsten Abend. Da war wieder das Gefühl, von dem er nicht wusste, was es war. Er konnte es kaum erwarten. Manchmal wünschte er, gewisse Tage könnte man einfach auswischen. Dass zwei Abende direkt aufeinander folgten. Er hielt mitten im Schritt inne.
Ich bin ich und niemand anders, dachte er. Was mir passiert, passiert mir ganz allein.
Es war nur einige wenige Nächte her, dass der erste Schnee lautlos gefallen war und sich angeschlichen hatte. Dann hatte Joel seine Neujahrsgelübde abgelegt. Er hatte schon ausprobiert im Schnee zu schlafen. Simon Urväder hatte ihm eine Gitarre geliehen, die viel Geld gekostet hatte. Von Kringström bekam er Unterricht. Sonja Mattsson hatte ihn in ihre Wohnung gelassen. Und jetzt würde der Windhund ihm das Küssen beibringen. Dann würde er Sonja Mattsson bestimmt dazu kriegen, durchsichtige Schleier anzulegen, und darunter würde sie ganz nackt sein.
Das Leben war merkwürdig. Lange Zeit passierte überhaupt nichts. Und dann kam alles auf einmal. Wie eine Schneelawine.
Er begann zu hüpfen.
Er erreichte das Haus, in dem er wohnte, und hüpfte die Treppe hinauf.
Samuel war nicht zu Hause. Er war wieder verschwunden. Das konnte nur eins bedeuten. Dass er nicht an sich halten konnte. Dass er wieder losgegangen war um zu trinken. Joel schlug mit den Fäusten auf den Küchentisch. Er weinte vor Wut. Er wollte Samuel nicht mehr zum Papa haben. Er wollte ihn austauschen. Er würde eine Anzeige in die Zeitung setzen.
Untauglicher Papa zu verschenken. Achtung! Kostenlos.
Oder gab es vielleicht besondere Müllplätze, wo man untaugliche Eltern loswerden konnte? Da konnten sie sich dann mit allen anderen zusammentun, die unbrauchbar waren. Joel sank auf dem Fußboden zusammen. Samuel war wieder losgegangen. Und obwohl Joel beschlossen hatte auf ihn zu pfeifen, wusste er doch, dass er bald hinausgehen und nach ihm suchen würde.
Er macht alles kaputt, dachte Joel. Wenn ich auch nur ein bisschen froh bin, muss er raus und saufen. Ich sollte draußen im Schnee schlafen und mich abhärten. Oder auf der Gitarre üben. Stattdessen muss ich raus und nach Samuel suchen. Das ist ungerecht.
Joel blieb lange auf dem Fußboden sitzen. Er war nicht mehr wütend, eher traurig und müde. Der Bauch tat ihm weh. Da drinnen saß Samuel und kniff. Joel stand auf, ging in Samuels Zimmer und setzte sich auf seinen Stuhl. Die Zeitung lag auf dem Fußboden, die Pfeife auf dem Radio. Joel hatte seine Stiefel nicht ausgezogen. Auf dem Fußboden bildeten sich Pfützen von geschmolzenem, schmutzigem Schnee. Die
Meuterei auf der Bounty
lag aufgeschlagen neben dem Radio. Joel griff danach. Da sah er, dass jemand mit dem Bleistift einige Zeilen
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