JörgIsring-UnterMörd
meine Lage versetzen.
Sie reden davon, ein Kind zu retten. Lassen wir einen Moment außer Acht, dass es
für einige Menschen Symbolkraft besitzt. Es geht um ein Leben. Ich rede davon,
dass Europa im Chaos versinkt, vielleicht sogar die Welt. Ein Leben gegen das
von Millionen. Wie wollen Sie das aufrechnen? Und, so zynisch das klingen mag,
wir müssen alle Opfer bringen.«
Krauss starrte ihn an. »Ich will gar nichts aufrechnen. Ein Leben ist ein
Leben, und das ist es wert, gerettet zu werden. Wollen Sie meine Meinung hören?
An diesem Krieg kommen Sie nicht vorbei, der ist längst beschlossene Sache. So
wie ich Hitler einschätze, sind bei diesem Mann alle Bemühungen vergeblich.
Denken Sie an
Bensler und seine Leute in London, von denen ich Ihnen vorhin erzählt
habe. Sie haben den Auftrag, im Kriegsfall Unruhe unter den Menschen zu
stiften, die Moral auszuhöhlen. Glauben Sie, Hitler schickt diese Männer nach
England, wenn er wirklich Frieden wollte? So naiv können Sie nicht sein. Hitler
will diesen Krieg, finden Sie sich damit ab. Was Sie auch tun, Sie können die
Menschen in Europa nicht retten.« Krauss machte eine Pause, um seine Aussage zu
betonen. »Aber diesen einen Jungen können Sie retten. Einen Menschen, der noch
sein ganzes Leben vor sich hat. Wenn Sie den Menschen wirklich helfen wollen,
und so schätze ich Sie ein, fangen Sie mit diesem Kind an. Lieber ein Leben
retten als gar keines, das ist meine Meinung.«
Je länger Krauss auf ihn einredete, desto mehr wankte Dahlerus. Der
Deutsche legte seine Finger auf offene Wunden, sprach die Zweifel aus, die den
Schweden Tag für Tag aushöhlten. In seinem tiefsten Inneren hatte Dahlerus die
Zuversicht verloren, dass es ihm gelänge, den Frieden auf Dauer zu sichern.
Vielleicht schaffte er es, den Kriegsausbruch aufzuschieben. Aber solange
Hitler existierte, würde es Konflikte geben. Es war schwer für Dahlerus, sich dies
einzugestehen. Denn aufzugeben kam für ihn nicht in Frage. Genauso wenig wie
für Krauss. Dieser Mann kämpfte für seine Überzeugungen. Der Schwede
respektierte das. Nicht aufgeben zu können, das war ihrer beider Natur. Dieses
Kind zu retten, bedeutete vielleicht, nicht aufzugeben. Einen Anfang zu
machen, wie Krauss sagte.
Dahlerus staunte über sich selbst, seinen Sinneswandel. Bevor er den Mann
unterstützen konnte, musste er noch etwas wissen. »Göring versucht auch, an das
Kind heranzukommen?«
»Zumindest hat er mir einen Handel angeboten, wenn ich ihm den
Aufenthaltsort verrate. Außerdem hat er selbst ein paar Männer nach England
geschickt. Sie sollen ihre Verbindungen spielen lassen und das Kind aufspüren.«
»Er will etwas gegen Hitler in der Hand haben. Oder so sein wie der Führer
- ich weiß es nicht.«
»Vielleicht will er dafür sorgen, dass das Kind vom Erdboden verschwindet.
Vielleicht will er auf Nummer sicher gehen.«
Dahlerus schwieg betreten. Göring enttäuschte ihn von
Tag zu
Tag mehr. Der Schwede faltete die Hände vor dem Gesicht. »Sie müssen mir
etwas versprechen, Herr Krauss. Wenn ich doch in Betracht ziehen sollte, Ihnen
zu helfen, dürfen Sie meine Vermittlungsbemühungen nicht gefährden. Schieben
Sie das, was auch immer Sie mit Ihrem Bruder vorhaben, so lange auf, bis entweder
eine Annäherung der Länder erreicht oder der Krieg ausgebrochen ist. Stellen
Sie sich vor, was passiert, wenn Sie vorher aktiv werden und bekannt würde,
dass ein zu den Briten übergelaufener Deutscher einen Anschlag auf die Gestapo
verübt hat. Das wäre das Ende aller Gespräche. Vorhin wollten Sie mein Wort,
jetzt brauche ich Ihres.«
Krauss zögerte, stierte auf den Tisch. »Sie haben mein
Wort.«
Dahlerus nickte. »Was soll ich tun?«
Krauss drehte den Kopf zu seinem Gesprächspartner. »Das heißt, Sie helfen
mir?«
»Erwarten Sie nicht zu viel von mir. Ich werde sehen, was ich tun kann. Ich
kann Ihnen nichts versprechen. Es kann jederzeit etwas dazwischen kommen.«
Krauss fasste Dahlerus an die Schulter. »Ich danke Ihnen. Ich wusste, dass
ich mich auf Sie verlassen kann.« Er zog ein Kuvert aus seiner Jackentasche.
»Hier ist die Nachricht. Die Adresse lautet Garden Lane 37. Sie steht nicht
auf dem Brief, Sie müssen sie auswendig lernen. Das ist sicherer, falls Ihnen
was zustößt. Geben Sie den Brief möglichst Christa persönlich. Sagen Sie ihr,
dass ich Sie geschickt habe. Sollten Sie wieder nach Berlin fliegen, werde ich
Sie kontaktieren. Das ist alles.«
Dahlerus sah ihn skeptisch an. »Wie
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