JörgIsring-UnterMörd
Seite der Badeinsel
hing, blieben ihm nur seine akustischen Eindrücke, um die Lage zu beurteilen.
Die Stimmen klangen für Krauss unaufgeregt, kaum angehoben in der Lautstärke.
So unterhielten sich Menschen, die sich täglich begegneten. Etwas fiel ins
Wasser. Oder sprang. Sein Bruder war unterwegs. Krauss konzentrierte sich auf
das, was vor ihm lag.
Nach ein paar Minuten hörte er es prusten und plantschen. Edgar war in der
Nähe der Badeinsel. Wenn Krauss seinen Bruder richtig eingeschätzt hatte, würde
er auf die Insel klettern, um sich von den warmen Strahlen der Morgensonne
aufwärmen zu lassen.
Edgar liebte das, es gehörte zu seinen Ritualen, den Tag zu beginnen.
Eine Minute
später wackelte die gesamte Badeinsel. Edgar kletterte über die auf der
Uferseite angebrachte Leiter auf die Planken und legte sich hin. Er atmete
schwer, hatte auf den hundert Metern alles gegeben. Krauss wartete einen
Moment. Es kam jetzt darauf an, dass er schnell und entschieden handelte. Er
nahm die 38er in die rechte Hand. Den Beutel ließ er treiben. Vorsichtig zog er
sich auf die Holzbohlen der Plattform. Noch schaukelte die Insel von dem
Schwung, mit dem Edgar herauf geklettert war. Er schöpfte keinen Verdacht.
Krauss hatte den Kopf über den Planken, konnte Edgar nun sehen. Sein Bruder lag
auf dem Rücken, die Füße wiesen zum Haus, der Kopf zum See, dahin, wo Krauss
sich gerade hochdrückte. Mit einer Kraftanstrengung war er oben und rollte sich
auf seinen Bruder zu, die Waffe im Anschlag.
Edgar, der die
Augen geschlossen hatte, drehte sich erschrocken um. »Was?«
Krauss fuhr ihn leise an. »Kein Laut!«
Edgar rückte unwillkürlich ein Stück von ihm weg. »Richard! Wie kommst du
... was machst du ...?«
»Wenn du springst, schieße ich. Wenn du schreist, schieße ich. Also sei
still und höre zu!«
Edgar versuchte, den Schock zu verdauen. Es war ihm anzusehen, dass er
nicht begriff, was hier vor sich ging. Wie sein Bruder es geschafft hatte, an
den Wachen vorbeizukommen. Krauss blickte fasziniert in Edgars ungläubiges
Gesicht.
»Du fragst dich, was du falsch gemacht hast. Ich kann es dir sagen: Du hast
mich unterschätzt. Das hast du immer getan.«
Edgar war etwas
ruhiger geworden. Er musterte seinen fast nackten Bruder, betrachtete die
Waffe, die auf ihn gerichtet war. »Du blutest, Bruderherz. Offensichtlich geht
es dir nicht so gut, wie du den Anschein erwecken möchtest. Vielleicht ist die
Waffe auch nass geworden. Vielleicht versuchst du nur, mich zu blenden, wie du
es immer getan hast.«
Krauss lächelte. »Schön, dass du wieder zu deiner alten Überheblichkeit
gefunden hast. Das geht wirklich bemerkenswert schnell bei dir, wie du dich auf
neue Situationen einstellst. Deshalb hast du es auch so weit gebracht. Leider
auf der falschen Seite.«
Edgar lächelte nun ebenfalls. »Was weißt du schon davon? Du bist hier der
Landesverräter, nicht ich. Und du hast dich nicht nur gegen dein Land, sondern
auch gegen deine Familie gestellt. Das wiegt noch viel schwerer, in allen
Kulturen, auch vor Gott.«
»Lass Gott aus dem Spiel. Das ist doch lächerlich. Jemand wie du, der
gnadenlos meuchelt, hat kein Recht, Gott für sich in Anspruch zu nehmen.«
Edgars Lächeln gefror. »Du bist also gekommen, um dich zum Richter
aufzuspielen. Gerade du! Aber vorher möchte ich dir noch etwas sagen. Der Weg
zurück in die Familie steht dir immer offen. Das eigene Blut ist stärker als
alles andere. Auch wenn es dir schwerfällt, mir zu glauben, aber ich hatte nie
vor, dich zu töten. Ich musste dich hart anfassen, um das aus dir herauszubekommen,
was ich wissen wollte. Mehr aber auch nicht. Was meinst du, weshalb ich die
Nummer mit Oda abgezogen habe? Weil ich dir nicht wirklich wehtun wollte. Beim
Russisch Roulette waren keine Kugeln in der Trommel. Du hast es gesehen. Ich
bin dein Bruder. Ich wollte dich nicht verlieren. Ich will dich nicht
verlieren.«
Krauss schüttelte den Kopf. »Dein Talent zu lügen ist unfassbar. Ich
glaube dir tatsächlich kein Wort. Es stimmt, dass du mein Bruder bist. Und
genau deshalb weiß ich, dass du lügst. Das hast du gekonnt, seit ich dich kenne.
Du hast jeden belogen, Vater, Mutter, mich, einfach jeden. Es hat dir nie etwas
ausgemacht. In dem Keller habe ich den Hass in deinen Augen gesehen, Hass und
Mordlust. So wie du Hanna ohne Zögern hingerichtet hast, so hättest du auch
mich getötet. Du bist als Mörder geboren, und so wirst du auch sterben.«
Edgar verzog das Gesicht.
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