Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
sein um jeden Zentimeter Schatten am Pool. Aber Holtrop hatte sich berufsbedingt einen aggressiven Nörgelinfekt zugezogen. Wo früher hysterisch generalisierte Begeisterungszustimmung war, war jetzt Generalmissmut die Grundhaltung, mit dem Spruch, den Holtrop auch hier brachte: »Das Bessere ist der Feind des Guten.« Dabei wedelte er mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor Mme Prunelle hin und her, um seine Ablehnung zu unterstreichen, seine Vorsicht, die Skepsis, »nein, nein«, rief er, das sei noch nicht das Beste hier, er habe keine Eile, er wolle nur das Allerbeste, alle wollten ihn überall nur noch über den Tischziehen inzwischen, aber er lasse sich nicht mehr über den Tisch ziehen, diese Zeiten seien vorbei, nur weil ein bisschen Geld da sei, müsse er sich nicht von jedem zweiten hinter die sogenannte FICHTE führen lassen usw. Dieses enthemmt geschwätzige Gerede war Ausdruck einer völlig irren Weltapperzeption, in die der Erfolg seiner neuen Geschäfte Holtrop in einem unglaublichen Tempo hineingeführt hatte. Zusätzlich zu seinem Job in London hatte Holtrop vor einem halben Jahr einen Sitz im Aufsichtsrat des Geräteherstellers Lanz AG übernommen. Die Mehrheitsaktionärin Gabriele Heintzen hatte ihn, von Mack ermutigt, im Herbst angerufen, sie brauche seine Hilfe, Lanz sei in Not, sie bewundere Holtrop als mutigen Unternehmer, das habe sich neulich in Festenbergskreuth für sie bestätigt, damit meinte sie ihr Sommerfest, er sei ihre letzte Hoffnung, Lanz habe unglaublich Potential, zuallererst habe sie an ihn gedacht, wage kaum zu fragen usw. Und dann hatte Holtrop sich ein paar Papiere zeigen lassen und gesagt: »gut, probieren wirs!« und hatte sofort bei der Lanz AG in München im Aufsichtsrat und als Sondergeneralist und Berater der Besitzerfamilie angefangen und schon nach wenigen Wochen, im Vorbeifahren sozusagen, festgestellt: »Das kann man alles sehr viel besser machen.« Das waren die Sätze, die Gabriele Heintzen hören wollte. Der alte Vorstand war nicht so sehr erfreut. Das war Holtrop egal. »Kann ich mal die neuesten Zahlen sehen!« kommandierte er, ließ die Lanzführung bei sich im Büro antanzen und klopfte im Nörgelmodus mit dem Finger auf das ihm vorgelegte Papier: »Hier, Verlust, schlecht!« Und weil im ganzen Land in diesem Herbst nach der Abwahl der ausgebrannten und abgewirtschafteten Altregierung unter Altbundeskanzler Gerhard Schröder, der seine Kanzlerschaft aus einer Überdrusslaune heraus per Neuwahlbeschluss verzockt hatte, überall eine diffus arbeitsam gestimmteLust auf Neues spürbar war, das Alte als hallodrihaft und unseriös empfunden wurde, ohne dass irgendjemand, schon gar nicht die Neubundeskanzlerin Merkel oder der Neuaufsichtsrat Holtrop, konkret hätte sagen können, was genau sich jetzt ändern würde und müsste usw, war aber auch bei Lanz in München die Grundstimmung umfassend auf Neuanfang ausgerichtet und Holtrop, kaum hatte er im Aufsichtsrat angefangen, von allen Seiten schon gedrängt worden, den alten Aufsichtsratschef abzulösen und selbst den Vorsitz zu übernehmen, und zwar möglichst schnell. Holtrop zierte sich nur kurz. Vom eigentlichen Geschäft der Lanz AG , die als Gerätehersteller firmierte, in echt ein wirres Konglomerat aus Alteisen, Neugas, Riesengeräten und Mikroideen war, hatte Holtrop keine Ahnung. Aber das war nicht der Punkt. Holtrop hatte in seiner Zeit als Firmenaufkäufer bei Cain den magischen Röntgenblick bekommen und perfektioniert, wodurch er Firmen im Blickdiagnoseverfahren von außen erfassen, durchschauen und bewerten konnte und im selben Moment auch noch bis ins letzte Detail analysiert und verstanden hatte. Und weil dieser magische Blick Holtrop Erfolg gebracht hatte, und zwar in der so schwer widerstehbaren, urüberzeugenden Form von Geld, Geld und noch mehr Geld, hatte Holtrop an dieser speziellen Stelle seines Lebens keine Chance, das gefährlich Hochstaplerische seiner Bereitschaft erkennen zu können, auch noch als einziger, die ihm angetragene Herausforderung anzunehmen und, wie er überall herumerzählte, rein aus Mitleid für die arme Gabriele Heintzen, deren Drängen nachgegeben, zugestimmt und sich zum Chef des Aufsichtsrats machen lassen.
Der Sommermärchensommer kam. Lanz war wieder pleite. Kredite, Mieten, Lieferanten, dieselbe alte Arie, die Holtrop bei Assperg fast wöchentlich von Ahlers immer neu vorgeleiert worden war, wurde ihm jetzt vom versammelten Lanzvorstand so lange und so hilflos
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