Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
Aus, aus, aus. In den Lanzheadquarters in Unterschleißheim bei München brannte in allen Zimmern Licht, überall Leute, zehn Uhr abends, Freitag, Holtrop war am Telefon mit den Banken. Lanz war zahlungsunfähig. Die immer wieder abgewehrte Pleite war endgültig Faktum, das war die Lage, »nein«, schrie Holtrop ins Telefon, »ich warte!«. Es nützte aber nichts, dass er warten wollte, Hombach war für ihn nicht zu sprechen. Und dass Holtrop in seinem Wahn, die Welt zwingen zu können, so zu springen, wie er wollte, die Direktionsassistentin von Hombach auf deren Privattelefon anbrüllte wie eine eigene, ihm unterstellte Praktikantin, war auch nicht gut. Es war aus, das war die Lage, Punkt, aus, Ende. Holtrop schaute zur Decke hoch. Aber auch dort passierte nichts, niemand meldete sich, game over, Mr. Holtrop. Holtrop gab das Telefon an einen seiner Mitarbeiter weiter, schüttelte den Kopf und sagte zweimal: »diese Schweine«. Resignation, Protest, Hass, der Hass, den Holtrop in den vergangenen Tagen gegen den Berufsstand der Bankleute aufgebaut hatte, ließ ihn zwar den Irrsinn der geldgetriebenen Weltwirtschaftsexzesse in einer plötzlichen, bizarren Klarheit erkennen, aber dieses antikapitalistische Späterweckungserlebnis, das er aktuell mit jedem zweiten Zeitungsleser teilte, nützte ihm nichts, im Gegenteil, der Hass auf die Bankleute, so begründet er war, erschwerte ihm die Verhandlungen mit den Banken. Liquiditätsengpass war das Zauberwort, das die Hoffnung implizierte, dass die Enge dieses Engpasses demnächst gleich durchschritten sein würde, und dann würde das Geld in schönster Flüssigkeit nur wieder so sprudeln, während in Wahrheit, was die Lanzanwälte Holtrop in den vergangenen zwei Wochen wiederholt unter der Hand gesagt hatten, der Straftatbestand der Insolvenzverschleppung längst erfüllt war. Natürlich ging es auch um persönliche Dinge. Im Kampf mit den Banken hatte sich Holtrop, der immer schon einen wenig seriösen Ruf hatte, als Figur und Verhandlungsgegenüber endgültig verschlissen. Vorallem Hombach hielt Holtrop für einen Hallodri. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Heiligendamm waren sie zuletzt gemeinsam auf einem Podium gesessen, Hombach skeptisch, in der Pose des nachdenklich warnenden Intellektuellen, Holtrop großmaulhaft optimistisch, er hielt es für seine Pflicht als CEO , in der Öffentlichkeit Optimismus zu verbreiten. Aber die Bankleute glaubten seinen Zusagen nicht mehr. Wenn bis Montag früh um neun bei der Deutschen Bank nicht zweihundert Millionen Euro Kreditrückzahlung überwiesen sind, dreht die Deutsche Bank der Lanz AG die Lichter aus, sechzigtausend Arbeitsplätze waren da inzwischen auch kein Argument mehr. Und während Holtrops Mitarbeiter, die alle das Jackett abgelegt hatten und im weißen Hemd mit gelockerten Krawattenknoten im Zimmer herumstanden, telefonierten und rechneten, letzte Rettungsoptionen beraten und erwogen wurden, stand Holtrop in einer Ecke am Fenster, schaute in die Nacht hinaus und dachte an seine eigenen Gelder. Private Kredite in Höhe von hundertvierzig Millionen Euro waren in den letzten Jahren aufgelaufen, um die sehr hohen Einkünfte der damaligen Jahre mit möglichst hohen Kreditzinsen möglichst steuergünstig, am besten natürlich steueroptimal verrechnen zu können, aber inzwischen war von diesen Finanzfinessen, wie vom Kapitalismus überhaupt, wenig übrig geblieben, seit der Finanzkrise gab es das Geschäftsmodell von Cain Corps Inc nicht mehr, die kreditfinanzierte Firmenaufkäuferei war insgesamt zum Erliegen gekommen, weil es keine Kredite mehr gab, Lanz war pleite, und Holtrop musste sich fragen, wo er selber blieb mit seinen Schulden, ohne Einkünfte, in dieser Lage.Er telefonierte mit Mack, dann, obwohl es schon so spät war, noch mit Gabriele Heintzen, dann wieder mit Mack. Wie wäre es verfahrenstechnisch möglichst wenig auffällig und so wenig inkorrekt wie möglich zu bewerkstelligen, dass möglichst viele der Holtrop vertraglich zugesicherten und ihm aufgrund seines außerordentlichen Einsatzes für Lanz auch rein moralisch zustehenden Millionen Euro Abfindung, Bonus, Pensionsansprüche noch an Holtrop von Lanz überwiesen werden könnten, bevor am Montag der Insolvenzverwalter bei Lanz die Geschäfte übernehmen würde? Der Personalausschuss des Aufsichtsrats sollte morgen um fünfzehn Uhr zu einer außerordentlichen Notsitzung zusammenkommen und die entsprechenden Beschlüsse fassen. Holtrop schickte seine Leute
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