Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
Vom Netzwerk:
und schaute erwartungsfroh zwischen Wonka und Frau Rathjen hin und her. Diemers war Hochschulingenieur, Krölpa-Urgestein, hatte hier immer schon, lange bevor Assperg den Druckstandort gekauft hatte und Thewehierher versetzt und ausrangiert worden war, das operative Geschäft stellvertretend geführt, die eigentliche Arbeit gemacht, Akquise von Kunden, Kontakte, Absprachen, Deals, bis hin zu den vertraglichen Feinheiten bestimmter Spezialabrechnungen bei der Mereo Dienste, zugespitzt gesagt gab es hier in Krölpa kein Stück Papier, dessen Zweck Diemers nicht verstehen und dessen Richtigkeit er nicht beurteilen hätte können, wovon Thewe als ehemaliger Personaler meilenweit entfernt war. Diemers war insofern der Typ zweiter Mann: wer unter mir Chef ist, ist mir egal. Aber er war ein untypisches Exemplar der Gattung, weil der Spruch keine Anmaßung war, sondern die Wahrheit benannte. Außerdem war Diemers gerne zweiter Mann, wie umgekehrt Thewe unter ihm gerne Chef war, weil beide über die geschäftlichen Dinge ähnlich dachten und sich menschlich mochten. Ebendies hatten die Beragberater auch ermittelt: alles bestens in der Spitze der Mereo Dienste. Trotzdem waren die betriebsklimatischen Probleme, von denen Frau Rathjen geredet hatte, nicht nur die Einbildung einiger schlechtgelaunter Mitarbeiter. Diemers teilte auch nicht die Verachtung vieler Führungskräfte für Probleme der innerbetrieblichen Stimmung. Diese Probleme waren zwar primär ein Unterschichtenphänomen in der Firma, aber für die Mitarbeiter unterhalb der Ebene der mittleren Führung, die faktisch aus der gehobenen Unterschicht rekrutiert wurden, war die Stimmung eben alles , zugleich der Ort der Identifikation mit der Firma und die Motivation zu dieser Identifikation. Wer so anspruchsvolle Aufgaben hatte, dass er sich mit deren Inhalt und also mit seiner Arbeit selbst identifizieren konnte, brauchte kein gutes Betriebsklima, die anderen schon. Dreiviertel aller Büroangestellten beschäftigten sich zu Vierfünfteln ihrer Arbeitszeit mit betriebsklimatischen Fragen. Das restliche Fünftel der Zeit wurde gerecht zwischen den Privataktivitäten im Internet und dem zeitlupenhaften Abarbeiten der eigentlichen Arbeitsaufgaben verteilt. Hierbei war die Zeitlupenhaftigkeit sicherzustellen, da zu schnelles Abarbeiten der Aufgaben aus Gründen der Kollegialität vermieden werden musste, andernfalls entstünden an vorgesetzter Stelle illusionäre Erwartungen darüber, wie viel Arbeit dem einzelnen Angestellten auferlegt werden könne. Es könne ja wohl nicht sein, so die Deppenformel für all das, was sehr wohl sein kann, aber nach Ansicht des Formelbenützers nicht sein sollte, dass Fleiß von einzelnen auch noch bestraft werde durch Mehrarbeit für alle. Die Wenigarbeiter wurden entsprechend zurückhaltend oder, um es direkt zu sagen, richtig schlecht bezahlt. Diejenigen, die wenig Geld kriegten, waren zwar da, körperlich anwesend, arbeiteten aber wenig. Und weiter oben, wo man mehr bekam, zusätzlich zum Privileg, sich mit sich selbst auch noch identifizieren zu können, wurde auch mehr gearbeitet. Obwohl diese Dinge recht einfach und offensichtlich waren, war es unüblich, dass sie ausgesprochen wurden. Speziell Nichtunterschichtlern war es verboten, zu sagen: »Die Faulen sind faul, weil sie schlecht bezahlt werden, und schlecht werden sie deshalb bezahlt, weil sie faul sind.« Diese strukturelle Faulheit, absichtlich, systembedingt, der schlechtbezahlten Wenigarbeiter unter den Büroangestellten – vom Arbeitsplatz Büro war hier die Rede, Weihnachtsfeier heißt BÜRO BÜRO , Büroroman – durfte den Schlechtbezahlten aber auch genau deshalb, weil sie so schlecht bezahlt wurden, nicht vorgehalten werden. Wahrheit würde extra kosten. Im Subprimepreissegment für Arbeitskraft war generell Lüge vorgeschrieben.
    »Einer geht schon noch, Herr Wonka«, meinte Diemers, als er sah, wie Wonka zaudernd in sich hineingehört hatte, ob der Hunger, der unstillbare Hunger, noch so groß war, dass er sich noch ein oder zwei weitere Stück Kuchen würde zuführen müssen. Die Debatte ging inzwischen um das in diesem Jahr stark zusammengestrichene Budget für den Abend, einige Firmen hatten ihre Weihnachtfeier aus aktuellen Gründen, Terror, Krieg, und wegen der wirtschaftlich angespannten Lage sogar ganz abgesagt, von Thewe habe es diesbezüglich auch schon Andeutungen gegeben, berichtete Frau Rathjen, auf eine klare Vorgabe warte sie bis heute, zwei Wochen vor

Weitere Kostenlose Bücher