Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
Bad Hönow an der Havel am südwestlichen Rand der Stadt. Dieses Stück des Wegs ohne Autobahn zog sich am längsten hin, auf endlosen Straßen ging es bei Tempo 50 und von unendlich vielen Ampeln aufgehalten durch die westlichen Stadtrandviertel von Berlin. Zuletzt kam eine Kaserne, dahinter das Nichts der früheren Grenze zum Osten, ein ziemlich langer Waldweg, und dann war Thewe endlich da, mitten im Nirgendwo. Es war ein Fehler, sich hier ein Haus gekauft zu haben, nur weil Bad Hönow am Wasser gelegen war und als Ortsteil zu Karinhall gehörte, wo die reicheren Reichen sich ihre Villen als Seeschlösschen herrichten ließen. Thewe parkte den Wagen in der Einfahrt, nahm seine Tasche in die Hand und ging auf das Haus zu. Die Scheinwerfer für die Überwachungskameras flammten auf und beleuchteten die Villa grellweiß, Thewe sperrte die Türe auf, machte im Eingang Licht und verschwand im Haus. Die Türe fiel zu. Die Lichter draußen gingen aus, und innen, in den Fenstern sichtbar, gingen sie überall im ganzen Haus an.
XIX
Die Stimmung in Krölpa war schlecht, das war normal. In den Bürozimmern des Arrowhochhauses brannten die Lampen, an ihren Schreibtischen warteten die Angestellten auf den letzten Feierabend dieser Woche, Freitagnachmittag, viertel nach drei. Ziemlich weit unten, im zweiten Stock war in einem Konferenzraum der Mereo Dienste eine Sitzung des Komitees zur Organisation der Weihnachtsfeier angesetzt, hier saßen sich die stellvertretende Kommunikationschefin Frau Rathjen und IT -Chef Wonka an dem dafür vorbereiteten Tisch gegenüber, die anderen Mitglieder des Komitees waren vorerst nicht erschienen. Frau Rathjen machte Wonka gegenüber eine Bemerkung über die Kaputtheit des Betriebsklimas am Standort Krölpa, die von der Zentrale in Schönhausen gewollt sei. Wonka saß da und nahm sich ein Stück von dem Kuchen, der in der Mitte des Tischs bereitgestellt war. Der Text von Frau Rathjen war nicht auf eine verbal explizite Resonanz hin angelegt, es reichte für diesen Text, dass der Körper irgendeines anderen Menschen, zum Beispiel der von Wonka, in Gesprächsentfernung anwesend war. Wonka wehrte sich nicht dagegen, den Fertigtext von Frau Rathjen mitgeteilt zu bekommen, so war die Situation entspannt, ohne dass er selbst etwas sagen musste. Er nahm sich noch ein Stück Kuchen, dann noch eines. Und die letzten beiden Stücke auf dem ersten Teller nahm Wonka gleich beide zusammen, zwei auf einmal, denn der Kuchen schmeckte ihm gut. Sein Hunger war fundamental, durch den Sinnentzug, den der Arbeitgeber zu verantworten hatte, bedingt, der Hunger war durch Essen auch nicht zu stillen, ein bisschen zu lindern aber doch. Auch war das Kuchenessen Wonkas, während Frau Rathjen die Kaputtheit der Chefebene analysierte, Rache an Assperg, so viel Kuchen konnte Asspergihm hier gar nicht hinstellen, wie sie eigentlich zahlen müssten, um ihn dafür zu entschädigen, dass sie ihn hier Tag für Tag nur dazu eingekauft und eingesperrt hatten, für viel zu billiges Geld obendrein, sein Leben zu vergeuden, die Schweine des Kapitals, die sich die Taschen mit dem von ihm erarbeiteten Mehrwert vollmachten. Dabei hatte Wonka eigentlich keine Wut. Es waren auch diese Worte, wie der Text von Frau Rathjen, eher einer fertigen Rede aus der organisierten Arbeitnehmerfolklore entnommen, die ihm Spaß machte, weil es sich lustig anfühlte, mit vollem Mund beim Kauen die Worte vom Taschenvollmachen der Schweine des Kapitals zu denken oder auszusprechen, und dann sagte Wonka, weil Frau Rathjen kurz eine Pause zum Aus- oder Einatmen gemacht hatte, wörtlich, die Stimmung sei eben, damit fasste er das von Frau Rathjen ausführlich Dargestellte in seinen Worten pointiert zusammen, im Arsch , soviel Klartext und Hinweis auf die eigene Herkunft müsse ja wohl noch erlaubt sein, ohne dass man sich all dessen nur noch zu schämen brauche, auch weil ihm in Frau Rathjen eine besonders affektierte, ihm ihre hochgeschraubte Verbalität angeberhaft vortanzende Edelnutte gegenübersaß, der gegenüber er das Wort vom Arsch besonders gut angebracht fand und freudig zu benutzen sich erlaubt hatte.
Da betrat Diemers bestens gelaunt das Zimmer. Diemers, Ende fünfzig, Souschef unter Thewe. Er erkundigte sich, ob denn schon angefangen worden sei, aha, er sei zu spät, da freute er sich gleich noch mehr. Diemers, sofort flirtend: »Frau Rathjen! Wie gehts!« Dann setzte er sich, klappte die Beine ein paar Mal auf und zu, nahm ein Stück Kuchen
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