Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
dem Termin, immer noch. Diemers nickte. Fehlender Chef, entscheidungsschwach, auch das war nicht nur Frau Rathjens Gerede, das war Realproblem in der Arbeit der Mereo Dienste und der Arrow PC insgesamt. Thewe drückte sich, Thewe war nicht ansprechbar, Thewe war verreist, »ich habe noch nie einen Chef erlebt«, sagte Frau Rathjen, »der so wenig führt wie Thewe«. Ein Chef muss ansprechbar sein, präsent als Energielieferant, Identifikationsfigur für alle. Aber Thewe war nicht ansprechbar, Thewe war nicht da, Thewe bunkerte sich ein. Die Klagen waren immer die gleichen, weil die Verhältnisse, die sie beklagten, sich gleich blieben. Aus Loyalität gegenüber Thewe bestätigte Diemers die allesamt zutreffenden Aussagen dennoch nicht. Aber auch dieses Lavieren verschlechterte die Lage nur. Außerdem galt Thewe als faul, er war nur Dreitagechef. Diemers war fleißig, trat aber aktiv immer hinter seinen Chef Thewe und die Formalität der Hierarchie zurück. Das bewirkte Agonie, auch das hatten die Beragberater in ihren Gutachten beschrieben. Diemers wusste deswegen auch, dass Holtrop mit seiner aus dem Nichts gestarteten Entlassungsaktion völlig richtig lag, im Prinzip und im Effekt und in der Sache, nicht aber im Stil. Holtrop hätte Diemers gern auf Thewes Stelle gesetzt, aber Diemers wollte Thewes Stelle nicht. Er arbeitete gern und viel, aber nicht wenn er direkt dem Vorstand unterstellt wäre, damit an Wenningrode und Holtrop berichten müsste. Er wollte lieber einem entscheidungsschwachen Chef wie Thewe unterstellt sein, als einem komplett entscheidungsverrückten, sprunghaften und rücksichtslosen Entscheidungshysteriker wie Holtrop. Außerdem hatte Holtrop die unangenehme Chefallüre, die Leute, die ihm zuarbeiteten, auch privat an sich zu binden und jeden einzelnen quasi als Freund auf sich zu verpflichten, der Chef also als Diktator, der Freundschaft einforderte. Ohne diese Zumutung anzunehmen, in Holtrops privaten Kreis aufgenommen zu werden, konnte man Holtrop nicht unterstellt sein. Für Leute, die von Macht fasziniert waren, war die Teilhabe an Holtrops Macht das Höchste. Damit spielte Holtrop. Aber es war nicht jeder von Macht fasziniert, das wusste Diemers, weil Macht ihm selbst egal war. Macht war etwas für Leute, die kein eigenes Leben hatten, die andere brauchten, um sich an denen austoben zu können. Diemers tobte sich gerne in der Arbeit und an der Arbeit aus, so war Diemers für sich selbst und für die Firma, das gab es bei Assperg also auch: der ideale Angestellte in der zweiten Reihe. Nach einer dreiviertel Stunde wurde Wonka ungeduldig. Es war vier Uhr. Der Feierabend war da. Diemers reagierte schnell, beendete die Sitzung und sagte: »Die nächste Sitzung des Komitees wird für nächsten Freitag einberufen.« Frau Rathjen schaute Diemers fröhlich an. Der lachte zurück, verabschiedete sich und ging in sein Büro, um Thewe anzurufen.
XX
Für fünf Uhr abends hatte Holtrop seine Chefs am Standort Krölpa zu einer außerordentlichen Besprechung in das Büro von Meyerhill zusammenrufen lassen. Er selbst war nach Berlin unterwegs und würde telefonisch zugeschaltetsein. Sprißler ging davor noch zu Blaschke in den Altbau hinüber. Beim Verlassen des Arrowhochhauses hatte Sprißler auf die ihm entgegengehaltenen Mikrophone und Kameras reagiert und den Journalisten das Dementi der Asspergpressestelle bestätigt: Holtrop sei zwar schon aus Krölpa abgereist, es sei aber nichts dran an den Berichten, Holtrop plane einen Wechsel weg von Assperg, ja, er habe eben erst mit ihm gesprochen. Das war zwar gelogen, aber Sprißlers Gesicht leuchtete in den Scheinwerfern der Kameras, die ihn filmten, scharf geschnitten, weiß und energisch, dahinter sah man die dunkel getönten Scheiben des Eingangsportals mit dem roten Schriftzug von Arrow PC . Unübersehbar brachte sich Sprißler auch öffentlich in Stellung. Die meisten Informationen über jeden, der bei Assperg Verantwortung hatte, hatte er als Chef der Abteilung Konzernsicherheit sowieso. Bei Blaschke sondierte er seine Aussichten, in den Zeiten nach Thewe die Aufsplitterung der verschiedenen Bereiche für Konzernsicherheit, die am Standort Krölpa der Arrow PC zugeordnet waren, jetzt endlich zu überwinden, unter seiner Führung natürlich. Das würde Meyerhill entlasten und der Securo das eigene Profil zurückgeben, das durch die sachwidrig organisierte Zusammenarbeit mit der Mereo Dienste beschädigt worden sei. Vom organisatorischen
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