Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
Samstag vorbereitet hatte. Zeit verging dabei. Fertig. Nocheinmal Musik, wie zuvor, Wenningrode saß wieder auf seinem Platz, es war ihm egal, ob er hier saß oder zuhause, und dann war der Festakt vorbei, und alle gingen von der Rotunde wieder nach draußen in die Aula. Wenningrodes Körper stand sackhaft bei irgendwelchen anderen Körpern, zu einer Gruppe von vier oder fünf Leuten versammelt, der normale Nulltext, der automatisch geredet wurde, kam aus den anderen und aus Wenningrode heraus, ganz von selber und ohne jede Anstrengung. Es gab etwas zu essen und zu trinken, das merkte Wenningrode daran, dass er mit seinem Mund das Essen kaute, es schmeckte nach Essen, das Getränk war flüssig und konnte zum Nachspülen verwendet werden. Dass Thewe nicht erschien, wunderte Wenningrode nicht, denn er hatte vergessen, dass er Thewe hierherbestellt hatte. Es wäre ihm auch egal gewesen, wenn es ihm eingefallen wäre oder wenn Thewe erschienen wäre, so war es ihm natürlich lieber, »kein Thema«, wie das auf Wenningroderisch hieß, den Spruch sagte Wenningrode stündlich etwa zwanzig Mal: »kein Thema«. Thewe: »Kein Thema.« »Noch einen Schluck?«: »Kein Thema.« Krölpa und der Ärger in Krölpa: »Kein Thema.« Die Steigerung von »kein Thema« war »kein Problem«. Irgendein Unter kam, um sich zu verabschieden. »Auf Wiedersehen, Herr Wenningrode!« Wenningrode: »Kein Problem, Wiedersehen.« Der praktisch realisierte IQ , auf dem Wenningrode sein Leben als Dienstevorstand der Assperg AG lebte, lag bei knapp über neunzig Punkten, wenn mehr gefordert war, konnte man immer noch, so Wenningrodes Vorstellung von seinen Geistesaktivitäten, bisschen zulegen. Auch das war für ihn natürlich »kein Thema« und schon gar »kein Problem«. Als sich die Räume der Stiftung langsam leerten und immer öfter irgendjemand zum Verabschieden kam, die Heimgehdrift deutlich spürbar wurde, ließ Wenningrode sich davon aufnehmen, sagte den zufällig bei ihm Stehenden aufwiedersehen, ließ sich nach draußen treiben und von seinem Fahrer, der vor der Türe auf ihn wartete, dorthin bringen, wo die Nichtigkeit seiner Existenz ihr unüberbietbares Nulligkeitsmaximum erreichte: nach Hause. Der Fahrer: »Nach Hause?« Wenningrode: »Ja.«
ZWEITER TEIL
I
Unruhig wirft sich Johann Holtrop hin und her. Hat er von der Lethe denn noch nicht genug getrunken?
In den folgenden Wochen war Assperg-Chef Holtrop einem Bombardement von widrigen, gegen ihn gerichteten Ereignissen ausgesetzt, die, obwohl nicht miteinander koordiniert, insgesamt auf eines hinzielten: ihn zu vernichten. Über Weihnachten, zwischen den Jahren, waren in überlangen Nächten die Gespenster der am Elften September in Ground Zero zu Nichts verdampften Existenzen ans Licht gestiegen, weltweit, in die Köpfe, die Hirne der Menschen hinein. Der Gedanke RACHE hatte plötzlich unabweisbar Plausibilität. Das Zeitalter der Finsternis war angebrochen.
Januar brachte halkyonische Klarheit, eisige Luft, Frankfurt: die Zwillingstürme der Deutschen Bank glitzerten in der tiefstehenden Vormittagssonne. Hoch oben, im 34 . Stock des Westturms, wurde hinter den silberverspiegelten Scheiben der Fassade die auf elf Uhr angesetzte Vorstandssitzung vorbereitet. Es war kurz vor elf, Mittwoch, 9 . Januar 2002 . Vom Zeitdruck beflügelt eilten die Aktivisten durch die Gänge richtung Lobby. Vor der Türe zum Konferenzsaal KS 2 kamen die Sekretärinnen, Caterer, Vorstandsassistenten und Praktikanten in kleinen Gruppen Gleicher zusammen, standen auf ein paar Worte beieinander und zerstreuten sich dann wieder. Ein großes buntes Bild hing an der Wand, ein modernes Ölgemälde, das einige jakobinisch kostümierte Revolutionäre am hölzernen Schaugestell einer Guillotine bei der mit offensichtlicher Freude verrichteten Arbeit zeigte, auf dem Schild daneben stand: »Neo Rauch, An der Zeitmauer, 2000 «. Im Büro des für die Kunstzukäufe der Bank mitverantwortlichen Vorstands Jesper de Berpenbrook, eine Etage tiefer, sammelte sich das Lager der Königsmörder. Zwei Zimmer weiter, beim Sprecher des Vorstands Bauer, kamen die ebenso revolutionär gestimmten Kräfte des Fortschritts um den jungen Wilden Peter Hombach zusammen.
Hombach, 53 , stand neben Bauers Schreibtisch, und während Bauer über den Niedergang und bald endgül-tigen Fall des Hauses Binz redete, war zu beobachten, wie sich die Signale der Zustimmung vermehrt auf Hombach fokussierten, obwohl der gar nichts sagte, wie
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