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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainald Goetz
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beiden, seine war alt und kaputt wie er selbst, und die ihre war, wie sie, noch lebendig.
    Aber jede derartige Antwort, egal wie wahr, war auch genau der Kitsch, den die von Kate Assperg kuratierte und jetzt von ihr in ihren einfachen Herzenssätzen erklärte Prüttausstellung feierte, seltsamerweise zu genau dem Zweck auch, um sich im eigenen Leben den Kitsch der Klarheit, mit dem das Leben sich äußerlich umgab, innerlich selbst vorenthalten zu können. Um also dumm und klar daherreden und gleichzeitig wirr und wahr denken und fühlen zu können. Und wäre dann etwa der Erfolg von Boulevard final doch auch aufklärerisch zu verstehen, weil das Publikum die dort gefeierte Ordinärheit eben nicht nur dauernd inhalierte, sondern dauernd auch wieder ins Draußen, von wo sie veröffentlicht herkam, zurückdrängte, draußen im Nichtich war der Dreck, von dem die Seele des Einzelnen im Inneren sich genau dadurch freihalten konnte, weil er draußen so megapenetrant da war und von da her auf sie eindrängte, dass sie, die innere Seele, ihn genauso heftig und andauernd abwehren musste usw. Und dieser permanent aktive Externalisierungsvorgang der Dreckverschiebung aus dem Ich zurück ins Nichtich wurde dann als das angenehme Gefühl erlebt, von dem dieLeute redeten, wenn sie, was oft zu hören war, über den Dreck der Bildzeitung sagten: »Ich fühle mich davon aber gut unterhalten.«
    Der junge Mann, in dessen Kopf diese Gedanken gerade zum ersten Mal aufgetaucht waren, war der angehende Journalist Dietmar Schmidt, 24 , Volontär im Gesellschaftsressort des Spiegel. Er war beauftragt, über die Veranstaltungen zum achtzigsten Geburtstag des alten Assperg einen kleinen Bericht zu machen, war am Donnerstagabend bei der großen Gala in der Stadthalle gewesen, hatte sich in Schönhausen umgesehen und umgehört, hatte um ein Interview mit einem Mitglied der Familie Assperg, am liebsten natürlich mit dem Alten selbst oder mit dessen Frau, angesucht, was ihm zwar nicht zugesagt worden war, aber der nicht unfreundliche Asspergpressechef Schmäling hatte Schmidt zu dieser Feier in angeblich besonders kleinem Rahmen eingeladen, und so hatte Schmidt den Auftritt von Prütt und dessen studentischer Entourage beobachten können, das war recht interessant gewesen und hatte Spaß gemacht, und jetzt beim Hereinkommen in die sogenannte Rotunde war er durch Zufall auch noch auf eine ehemalige Mitstudentin an der Münchner Journalistenschule getroffen, Constanze Zegna, die ihm von ihrem Holtropporträt und dem gestrigen Abend mit Holtrop und Leffers in der Berliner Paris Bar erzählte. Die Geschichte klang gut, als Mann hatte man es im Peopleporträtbusiness nicht ganz so einfach wie jede mittlere junge Frau, erst recht wenn sie so gut ausschaute wie Constanze Zegna, das war »halt Faktum«, dachte Schmidt und hörte als Echo mit Hall das nicht ganz unpassende Fremdwort »Manufactum«. Der handgeschnitzte Journalismus, den sie als Realreporter hier machten, um ihn zu lernen, war irgendwie auch lächerlich dated, altmodisch und sinnlos. Redend waren Schmidt und Constanze Zegna dann zusammen in den Saalgegangen und hatten sich nebeneinander hingesetzt, hintere Mitte außen, und der durch den Kitschtext von Kate Asspergs Rede in Schmidt ausgelöste Gedanke über den davon ermöglichten inneren Nichtkitsch animierte Schmidt da-zu, Constanze Zegna am Arm anzutippen und zu sagen: »Ganz interessant, oder!« Sie schaute ihn erstaunt an, weil sie nicht sicher wusste, ob und inwiefern das ironisch gemeint war, und sagte deshalb: »was?«, und er sagte: »na sie, die Rede, die Alte!« und registrierte ein ratloses Abwehrnicken bei ihr. »Also keine Verbindung gedanklich«, dachte Schmidt, »auch okay«, und kritzelte auf seinen Reporterspiralblock die Worte: »Nichtkitschmöglichkeit geistig durch Kitschrealität.«

XXIX
    Dann redete der Bürgermeister. Diese Rede war wirklich schlimm. Dagegen war die von Kate Assperg zuvor gehaltene Rede tiefsinnige Poesie gewesen. Der Bürgermeister hatte einen sehr stumpfsinnigen Redenschreiber offenbar, anders war das Niveauchen der Rede nicht zu erklären, oder wer war das eigentlich, der in so einer mittleren Mittelstadt wie Schönhausen mit vielleicht hundertachtzigtausend Seelen für den Text solcher Reden zuständig war? Schmidt merkte, dass er für seinen Bericht noch nicht genug wusste, auch dieser Gedanke belustigte ihn, denn er würde am Montag die Pressestelle des Schönhausener Rathauses aufsuchen und

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