John Sincalir - 0973 - Der verhexte Blutwald (1 of 2)
Da kommen mir diese Schuhe gerade recht.«
Das hatte auch Ginette akzeptiert und kaum noch nachgehakt.
Greta schaute auf die Schräge. Über sie rollte sie normalerweise von der Veranda, um hinter das Haus zu gelangen, wo sie ihre Spazierfahrten durchführte, bis zum Waldrand heran, weiter nicht, denn dort wurde der Boden zu uneben.
Diesmal ging sie.
Nicht wie jemand, der nach langem Liegen erst das Laufen lernen muß, nein, sie ging, als wäre sie gelähmt gewesen.
Greta trat bewußt hart auf dem Holz auf, denn sie wollte hören, daß sie ging. Es tat ihr einfach gut, die Echos zu vernehmen, denn nur so wußte sie, daß sie lebte und sich wie jeder gesunde Mensch bewegte. Hinter der Schräge blieb sie für einen Moment stehen. Nach wie vor blickte sie dem Waldrand entgegen, und sie wußte auch, daß sie hineingehen würde, aber sie wollte sich Zeit lassen und erst einmal in der Nähe des Hauses umherwandern.
Ihre Schritte waren normal. Keine Anzeichen von Steifheit. Alles klappte prima. Der Herzschlag hatte sich wieder normalisiert. Sie hätte jetzt leicht das Dorf umrunden und bis zum nächsten Ort gehen können, das aber wollte sie nicht.
Der Wald lockte zu stark, und sie mußte auch hinein, um Kraft zu tanken.
Deshalb drehte sie sich nach einigen Metern des Wegs nach rechts, lief über den kleinen Trampelpfad, den Ginette angelegt hatte, und schritt bald über den weichen Boden hinweg, der nicht sumpfig war, sondern einfach nur weich, als würde sie über irgendwelche Körper hinwegschreiten, die dicht an dicht lagen.
Der Wald und auch der Boden waren nicht tot. Beide steckten voller Leben, voller Kraft, aber sie würde von den meisten Menschen nicht begriffen werden.
Das Unterholz war im Laufe der Zeit nie weggeräumt worden. Es war dicht, es war verfilzt und teilweise verrottet. Niemand betrat den Wald mit einer Säge. Er konnte wachsen und sich ausbreiten und war so im Laufe der Zeit fast zu einem neuen Urwald geworden.
Sein geheimnisvolles Flair wehte ihr jetzt stärker entgegen. Eine tiefe Dunkelheit lag zwischen den Stämmen, die sich kaum voneinander abhoben.
Aber es gab Lücken. Und Greta kannte sie. Alles wußte sie über den Wald, der ihr bester Freund geworden war.
Der Boden wurde nie trocken. Die feuchte Erde blieb, und sie roch nach Fäulnis und Moder. Das Parfüm der alten Götter, so hatte Greta diesen Geruch getauft.
Sie mochte ihn. Sie liebte ihn. Er war für sie der große Kraftspender.
Das Unterholz schien vor ihr zurückzuweichen, als sie es erreicht hatte.
Es stimmte natürlich nicht, denn die einsame Wanderin kannte hier jeden Fußbreit Boden. Sogar im Dunkeln hatte sie genau die Stelle getroffen, die sie durchqueren mußte, um den Wald zu erreichen.
Sie ging wie immer.
Nicht forsch, sondern normal, oder wie jemand, der sich genau auskennt und sich nicht erst ängstlich umzuschauen brauchte. Der dunkle Wald nahm sie auf, in dem es nach Rinde, nach alter Erde und auch nach dem Blut roch, das der Wald gespeichert hielt. Sie duckte sich unter den tiefhängenden Zweigen hinweg, streckte ein paarmal die rechte Hand aus und berührte die Blätter. Dabei kam es ihr vor, als würde sie Haut anfassen, keine Blätter.
Hier gab es nichts Totes. Alles lebte. Jeder Baum, jede Wurzel, auch die Erde.
Der Wald war ein Grab und trotzdem eine sehr lebendige Welt, die man nur richtig sehen mußte.
Ab und zu, an Stellen, die nicht so stark zugewachsen waren, malte das silbrige Mondlicht hellere Inseln auf den Boden. Dort konnte sie ihre Freunde dann besser erkennen. Jeder Baum war ihr so vertraut, als hätte sie ihm einen Namen gegeben. Sie sah die Rinde, die sich so weich anfühlte. Sie entdeckte in den Stämmen seltsame Augen, die sofort wieder verschwanden, wenn sie den Blick zurückgab, sie fühlte die Berührungen an ihrem Körper wie Streicheleinheiten, und die Erde unter ihr war mit dickem Blut aus ferner Vergangenheit gefüllt.
Der Wald liebte sie, und sie liebte ihn. Der Wald war nicht tot. Er hatte ein riesiges Herz, das ebenso schlug wie das eines Menschen, denn sie hörte jeden Schlag.
Oder war es ihr Herz?
Greta ging weiter. Sie war nicht allein. Unzählige Freunde begleiteten sie auf ihrem Weg durch die Finsternis und auch durch das Licht, denn vor ihr entstand wieder das seltsame Phänomen, als sich die Dunkelheit der Nacht veränderte und diesen violetten Schimmer bekam, als wären die Bäume dabei, ihr eigenes Blut abzusondern, um den ureigenen Geruch des Waldes wieder
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