John Wells Bd. 1 - Kurier des Todes
die Kämpfer aufnehmen und verköstigen sollten. In der Praxis stellten sie jedoch nur eine zusätzliche Last für die ohnehin schon entsetzlich armen Familien dar. Also mussten sie sich wie alle anderen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Wells und das halbe Dutzend Araber, das mit ihm in diesem Dorf in der Nähe von Akora Khatak untergebracht worden war, überlebten, weil sie sich von altbackenem Brot und Lammresten ernährten. Er wollte nicht einmal darüber nachdenken, wie viel Gewicht er bereits verloren hatte. Die wenigen Male, die er sich in einem Spiegel gesehen hatte, hatte er sich kaum wiedererkannt. Die Schusswunde in seinem linken Arm war zu einem harten Knoten vernarbt, der in unvorhersehbaren Abständen zu schmerzen begann.
Selbst für Wells, der als Kind in der frostigen Bitterroot Range an der Grenze von Montana und Idaho gespielt hatte, waren die hiesigen Winter unbarmherzig hart. Die Kälte drang ihm tief in die Knochen ein, und er konnte sich nur allzu gut vorstellen, was die Saudis davon hielten. Viele hatten in diesen Bergen den Märtyrertod gefunden, doch nicht durch Bomben oder Kugeln. Sie starben an Lungenentzündung und Höhenkrankheit und einem Leiden, das stark an Skorbut erinnerte. Einige hatten im Sterben nach ihren Müttern gerufen, und einige wenige hatten Osama verflucht, weil er sie an diesen grauenvollen Ort geführt hatte. So oft er konnte – was selten genug der Fall war –, aß Wells frisches Obst. Die Zähigkeit und Widerstandskraft der ansässigen Paschtunen rang ihm Bewunderung ab.
Um nicht den Verstand zu verlieren, trainierte er mit seiner Truppe so oft wie möglich. Der örtliche Stammesführer hatte ihm geholfen, einige Kilometer außerhalb des Dorfes in der Ebene einen Schießplatz einzurichten. Dorthin ritt Wells
im Abstand mehrerer Wochen, um mit seinem halben Dutzend Männer so viele Schüsse abzufeuern, wie sie Patronen entbehren konnten. Aber auch dies konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nichts anderes taten, als die Zeit totzuschlagen. So wie all die anderen. Wäre Amerika gegen die Al-Quaida ein von Pop Warner übertragenes Football-Spiel, hätten die Schiedsrichter das Spiel längst durch die »Mercy-Regel« beendet, die griff, wenn die eine Partei uneinholbar vorn lag.
Während Gul in die Menge der Gläubigen trat, blickte er die Männer ernst an und sprach erneut mit tiefer, kraftvoller Stimme zu ihnen. »Die Zeit der Worte ist vorüber, meine Brüder«, erklärte er. »Wenn es Allahs Wille ist, werden schon bald Taten sprechen. Möge der Segen Allahs auf alle aufrichtigen Muslime herabkommen. Amen.«
Die Männer drängten sich darum, den Scheich zu umarmen. Während Wells wartete, bis er an die Reihe kam, fragte er sich, ob Gul von einem konkreten Vorhaben wusste oder lediglich versuchte, die Gemeinde wachzurütteln und zu einen. Als er mit der Zunge an einen lockeren Backenzahn stieß, durchzuckte Schmerz seinen gesamten Kiefer. Die zahnärztliche Versorgung in der Nordwestprovinz ließ ein wenig zu wünschen übrig. In ein paar Wochen würde er in die Klinik nach Akora fahren müssen, um den Zahn »untersuchen« zu lassen. Vielleicht fand er aber auch schon hier eine Zange, um das Problem selbst zu lösen.
In letzter Zeit hatte Wells immer wieder davon geträumt, diesen Ort zu verlassen. Er konnte per Anhalter nach Peschawar gelangen, dort den Bus nach Islamabad nehmen und an die Vordertür der amerikanischen Botschaft klopfen. Oder besser gesagt, an die Straßensperren, die verhinderten, dass LKW-Bomben den explosionssicheren Wänden der Botschaft
zu nahe kamen. Nach wenigen Minuten wäre er im Gebäude und einige Tage später zu Hause. Niemand würde behaupten, dass er versagt hatte. Zumindest würde ihm das niemand ins Gesicht sagen. Sie würden sagen, dass er alles getan hatte, was er tun konnte, was man überhaupt tun konnte. Aber tief in seinem Inneren würde er wissen, dass das nicht stimmte. Und er selbst würde sich nie verzeihen.
Weil dies kein Football-Spiel auf Pop Warner war, gab es auch keine Mercy-Regel, und die Männer, die neben ihm in der Moschee standen, würden nur allzu gern ihr Leben opfern, damit man sich an sie als Märtyrer erinnerte. Auch wenn sie hier in den Bergen festsaßen, verfolgten sie immer noch dasselbe Ziel: die Kreuzritter für ihre Überheblichkeit zu strafen, Jerusalem zurückzuerobern und möglichst viele Amerikaner zu töten. Die Wünsche der Al-Quaida wurden nur durch ihre Ressourcen
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