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Johnson, Denis

Johnson, Denis

Titel: Johnson, Denis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesu’s Sohn
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Seattle ist es meistens grau, aber heute erinnere ich mich nur noch an die sonnigen Tage dort.
    Drei oder vier Stunden fuhr ich im Bus durch die Gegend. Mittlerweile wurde das Ding von einer riesigen Jamaikanerin gesteuert «Sie können hier nicht einfach so sitzen», sprach sie mich im Rückspiegel an, «irgendwann müssen Sie mal raus.»
    «Dann steig ich an der Bibliothek aus», sagte ich.
    «Geht in Ordnung.»
    «Weiß ich selber, daß das in Ordnung geht», sagte ich.
    In der Bibliothek blieb ich, atemlos und wie erdrückt von der schwelenden Gewalt all der Worte – viele davon unergründlich –, bis zur Happy Hour. Und dann ging ich wieder.
    Der Autoverkehr war erbarmungslos, die Gehsteige waren überfüllt, die Leute gehetzt und unfreundlich, denn Happy Hour heißt eben auch Rush-hour.
    Wenn Happy Hour ist, zahlt man für einen Drink und bekommt zwei.
    Die Happy Hour dauert zwei Stunden.
     
    Die ganze Zeit hatte ich nach der Bauchtänzerin Ausschau gehalten. Sie hieß Angélique. Ich wollte sie finden, weil sie mich trotz ihrer sonstigen Techtelmechtel doch zu mögen schien. Ich selber hatte sie gleich gemocht, als ich sie das erste Mal sah. In dem griechischen Nachtclub, in dem sie damals tanzte, ruhte sie sich an einem Tisch zwischen zwei Nummern aus. Ein bißchen Bühnenlicht glitt über sie. Sie war sehr zart Sie sah aus, als wäre sie in Gedanken weit weg, als wartete sie geduldig auf den, der sie zerstören würde. Eine der anderen Tänzerinnen, eine geschorene, mannsgleiche Person, blieb immer dicht neben ihr und sagte «Was bildest du dir eigentlich ein, Kleiner?» zu einem Matrosen, der sie auf einen Drink einladen wollte. Angélique selber sagte nichts, und ihre jungfräuliche Traurigkeit war nicht bloß gespielt. Es stimmte: In ihr war etwas, das erst noch geboren werden wollte, doch sie ließ es nicht zu, weil es zu schön war für diesen Ort. Trotzdem war sie vor allem eine kaputte Schlampe. «Ich versuch doch bloß anzudocken», sagte der Matrose. «Bei dem, was die hier für die Drinks nehmen, denkt man ja, man sei halbwegs willkommen.» – «Du nicht, nicht bei ihr», sagte die ältere Tänzerin. «Sie ist müde.»
    Der Tag endete furios und strahlend. Die Schiffe im Sund sahen aus wie Schattenrisse, die in die Sonne gesaugt wurden.
    Ich nahm zwei Doppelte, und sofort war mir, als wäre ich seit Ewigkeiten tot gewesen und endlich erwacht.
    Ich war im Pig Alley. Das Lokal ging direkt auf den Hafen, denn es stand mit seinem auf Holz geklebten Auslegeteppich und seiner Resopaltheke gleich überm Wasser auf einer klapprigen Pier. Der Rauch der Zigaretten dort hatte was Unirdisches. Die Sonne sank durch ein Wolkendach, ließ das Meer in Flammen aufgehen und füllte das große Panoramafenster mit geschmolzenem Licht, so daß unser ganzes Tun und Träumen in einem leuchtenden Nebel vor sich ging. Leute, die die Bars auf der First Avenue betraten, gaben ihren Körper auf. Danach waren nur noch die Dämonen zu sehen, die in uns wohnen. Seelen, die einander unrecht getan hatten, kamen wieder zusammen; der Vergewaltiger traf sein Opfer, das verlassene Kind fand seine Mutter. Aber nichts Heß sich wiedergutmachen; der Spiegel war ein Messer, das alles von sich selber trennte; Tränen falscher Verbrüderung tropften auf die Theke. Und was werdet ihr mir als nächstes an- tun? Womit wollt ihr mich jetzt noch in Furcht versetzen?
    In der Bibliothek war mir etwas Peinliches passiert. Ein älterer Herr war, seine Bücher unter dem Arm, von der Ausgabestelle herübergekommen und hatte mich schüchtern angesprochen, fast wie ein Mädchen. «Ihr Reißverschluß», sagte er, «ist auf. Ich dachte, ich sag’s Ihnen lieber.»
    «Okay», sagte ich. Ich griff rasch nach unten und zog ihn hoch.
    «Haben ‘ne Menge Leute bemerkt», sagte er.
    «Okay. Danke.»
    «Bitte», sagte er.
    Ich hätte ihn an der Gurgel packen und umbringen können, gleich dort in der Bibliothek. Die Welt hat schon ganz andere Sachen gesehen. Aber er drehte sich um und ging.
    Das Pig Alley war eine schäbige Bar. Neben mir saß eine Krankenschwester in Berufsmontur; sie hatte ein blaues Auge.
    Ich erkannte sie. «Wo ist denn dein Freund geblieben?»
    «Wer?» fragte sie ganz unschuldig.
    «Ich hab ihm zehn Dollar gegeben, und jetzt ist er verschwunden.»
    «Wann?»
    «Letzte Woche.»
    «Hab ihn seitdem selbst nicht mehr gesehen.»
    «Er sollte sich wie ein Erwachsener benehmen.»
    «Wahrscheinlich ist er in Tacoma.»
    «Wie alt ist er

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