Joli Rouge (German Edition)
wunderschöne
Frau. Du siehst ihr ähnlich. Émile war vernarrt in sie.«
Sie beobachtete ihn. Er verschwieg ihr etwas, aber sie
wollte nicht nachbohren. »Erzähl mir von Michel Le Basque«,
forderte sie. »Weshalb hasst er mich derart?«
»Dafür musst du seine Geschichte kennen. Das Leben damals
war anders als heute. Alles begann kurz bevor Émile und ich
auf die Inseln kamen. Die Männer lebten in unorganisierten
Gruppen zusammen. Es waren Schiffbrüchige, geflohene
Gefangene, spanische Deserteure. Der Baske entdeckte diese
Männer zufällig, als das Schiff, auf dem er seinen Dienst
verrichtete, im Sturm vor La Española auf eine Sandbank
geriet. Er lebte bei ihnen und schwang sich über die Zeit zu
ihrem Anführer auf. Er schrieb Regeln nieder, die bis dahin
nur mündlich unter den Männern galten. Durch seine Reisen
war er bewandert in der Kunst der
tataus
und einte die
Männer mit den Zeichen, die wir nur zu gut kennen. Es war
eine kleine Flamme, die er entzündete und die innerhalb
kurzer Zeit die gesamte Inselwelt in Brand steckte.
Freiwillige folgten dem Ruf der Küstenbrüder, jeder kam mit
anderen Sehnsüchten. Der Baske war klug und nutzte das aus.
Er lockte die Männer zuerst mit der Aussicht auf ausreichend
Nahrung, später mit der Aussicht auf Reichtum. Seine
Strategie war einfach. Die Spanier fühlten sich sicher in
ihren Gewässern und waren zu arrogant, um zu glauben, dass
sie von Ruderbooten eingenommen werden könnten. Der Baske
belehrte sie eines Besseren. Je mutiger und einfältiger die
Männer waren, die er um sich scharte, umso größer war die
Aussicht auf Erfolg. Wir waren nicht viele damals. Ein Boot
fasste kaum mehr als dreißig bis vierzig Mann. Bisweilen
trieben wir tagelang auf offener See, ohne etwas zu essen
und mit nur wenig Wasservorräten. Es kommt der Punkt, an dem
man nichts mehr zu verlieren hat und sich unerbittlich dem
Feind stellt, weil es anschließend nur besser werden kann.
Das war unser Leben. Wir waren Gefährten des Kampfes.
Michel, Antoine Hantot, Émile, die Gebrüder Lormel, ich und
noch viele andere, deren Namen heute keiner mehr erwähnt.
Wir sind der Beginn der Bruderschaft.«
Jacquotte senkte den Kopf. »Ich wusste nicht …« Sie brach
ab. »Émile rettete dem Basken einst das Leben.«
»Er weiß nicht, dass du Émiles Tochter bist und es würde
mittlerweile auch keinen Unterschied machen. Du bist
Sinnbild für all die Mächte, gegen die der Baske ankämpft.
Die Welt befindet sich im Umbruch. Die Länder jenseits des
Atlantiks interessieren sich mit einem Mal für die
Westindischen Inseln. Die Machtstrukturen verändern sich und
alte Herrscher greifen nach der Neuen Welt. Der Baske kämpft
weiter, obwohl sich seine Gefährten längst verabschiedet
haben. Er fordert zurück, was nicht mehr zu ändern ist.«
Das Heulen des Sturms gewann an Intensität.
»Wo wird mein Platz in dieser Welt sein?« Sie begegnete
Jérômes Blick. Er streckte seine Hand aus und berührte ihre
Wange. »Das kann ich dir nicht sagen,
nanichi
.«
Der vertraute Klang ihres Spitznamens ließ Erinnerungen
wach werden.
»Weißt du, wo sich Pierre aufhält?«, erkundigte sie sich.
Jérômes Gesichtsausdruck war undurchdringlich. »Ich bin
mir nicht sicher, ob man ihm noch trauen kann«, erwiderte
er, und Jacquotte schluckte.
Ein Schatten zuckte an der Wand neben ihnen. Jemand befand
sich im unteren Teil des Hauses! Jacquotte drehte den Kopf,
während Jérôme sie an den Schultern packte und herumriss.
Funken sprühten, ein lauter Knall folgte. Sie spürte, wie
Jérôme zusammenzuckte. Dann verdeckte seine Brust ihr
Blickfeld. Seine Hände krallten sich schmerzhaft in ihre
Oberarme. Er stöhnte. Heftig zog er sie zu sich heran.
»Tête-de-Mort«, wisperte er. »Vertrau ihm!«
Jacquotte strauchelte. Jérômes Gewicht lastete schwer auf
ihr. Sie versuchte, sich zu befreien, doch sein mächtiger
Körper drückte sie beinahe zu Boden. Nur mühsam hielt sie
sich aufrecht. Sein rasselnder Atem kam stoßweise. Mit der
rechten Hand griff er nach seiner Pistole. Sie bemerkte Blut
auf ihrem Hemd und sah ihn erschrocken an. Seine Augen
flackerten. Er war getroffen worden!
»Kämpfe«, hustete er und wirbelte mit ihr herum. Sie zog
instinktiv Pistole und Säbel und versuchte, den Feind
auszumachen. Jérôme feuerte und schubste sie mit aller Kraft
in Richtung Treppe. Im Flug registrierte sie, dass er eine
weitere Pistole zückte
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