Joli Rouge (German Edition)
und erneut schoss. Jacquotte prallte
gegen die Wand und stürzte die Treppe hinab. Wie ein
hilfloser Käfer schlitterte sie rücklings über die morschen
Dielen. Bei dem Versuch, ihren Kopf zu schützen, verlor sie
ihre Waffen. Sie fluchte und erkannte aus den Augenwinkeln
Jean-David Nau, der in der Deckung des Geländers seine
Pistole lud. Er erwiderte das Feuer, bevor sie etwas tun
konnte. Hart schlug sie auf dem Steinboden auf. Kurzzeitig
wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam, sah
sie, dass Jérôme in sich zusammensackte. Jacquotte schrie
auf. Jean-David wandte sich um, lächelte und kam auf sie zu.
Seine Schritte hallten in ihren Ohren wider. Mit einer
schnellen Bewegung zog er ein rostiges Messer. Ein weiterer
Schuss überlagerte das Getöse des Unwetters. Jean-David
wirbelte herum und hielt sich den Oberarm. Keuchend rappelte
sie sich auf. Jérôme hatte sich am Geländer hochgezogen.
Blut lief aus seinen Mundwinkeln. Ihre Augen trafen sich. Er
nickte ermutigend. Jacquotte schnürte es die Kehle zu.
Hastig humpelte sie zur Tür. Der Sturm peitschte den Regen
fast waagerecht durch die Gasse. Sie warf einen letzten
Blick über ihre Schulter. Jean-David legte an und feuerte.
Sie stürzte ins Freie.
Zunächst rannte sie, dann wanderte sie ziellos umher. Ihre
Kleidung hing schwer an ihrem Körper, und ihre Tränen
vermischten sich mit dem Regen. Jérôme! Sie hatte ihn
verflucht, und nun weinte sie um ihn. Ihr Kampf, ihr
Aufbegehren gegen ihn war sinnlos gewesen. Michel Le Basque
war die Bruderschaft, er war es seit jeher. Alles, was sie
sich je erträumt hatte, wurde mit dem Sturm aus ihrem Kopf
gefegt. Sie würde niemals als Frau in der Bruderschaft
segeln. Nicht, solange es Michel Le Basque gab. Nicht,
solange es Jean-David Nau gab. Nicht, solange es Männer wie
Bigford gab. Sie war machtlos gegen ihre Intrigen und
wehrlos gegen ihren Hass. Ihr Einfluss reichte zu weit, ihre
Demütigungen saßen zu tief, als dass sie allein dagegen
anzukämpfen vermochte.
Jacquotte schluchzte auf. Sie war eine Hexe wie ihre
Großmutter und verdammt dazu, unterzugehen. Ginge es einzig
um sie allein, würde sie lieber kämpfen und dem Gegner ins
Gesicht sehen, als ständig auf der Hut zu sein. Doch Jérôme
hatte ihr von Manuel erzählt. Er war wohlauf. Wie froh sie
darüber war! Er war ihr Bruder, ihr kleiner Schmetterling.
Sie würde nichts tun, was ihn in Gefahr brachte. Das war sie
ihm schuldig. Bei Jérômes Frau war er in Sicherheit und so
sollte es bleiben. Keiner durfte je herausfinden, dass er
ihre schwache Stelle war. Keiner sollte sie je mit ihm
erpressen, wie Bigford es einst versucht hatte. Als sie den
Hafen erreichte, blies ihr der Sturm beinahe die Füße unter
dem Körper weg und nahm ihr den Atem. Wütend stellte sie
sich ihm entgegen. Die Wellen schossen über die Kaimauer und
streckten ihre gierigen Finger nach ihr aus. Jacquotte ging
näher heran. Crochu hatte ihr von den Sirenen erzählt, die
die Männer mit ihrem Gesang ins Wasser lockten, und sie
fragte sich, was sie erwartete, wenn sie sich von den
Wassermassen hinabziehen ließ. Duppy? Neptun? Ein
unbekanntes Wesen? Sie erschauerte.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und hielt sie
zurück. Tête-de-Mort! Sie warf sich in seine Arme.
»Du hast gewählt«, sagte er.
»Jérôme…« Sie zitterte und konnte nicht damit aufhören.
»Jean-David hat auf ihn geschossen. Wo soll ich hin,
Nicolas? Wo ist mein Platz?«
Er hielt sie fest. »Dein Platz ist bei mir. Die rote
Jacquotte und der Tod. So war es die ganze Zeit.«
Sie lehnte sich erschöpft an ihn, aber er schob sie von
sich.
»Er folgt dir«, bemerkte er angespannt und nahm ihre Hand.
Gemeinsam stemmten sie sich gegen den Wind und bestiegen ein
Beiboot. Das Meer riss an den Rudern, doch Tête-de-Mort
gelang es, sie vom Ufer fort zu bringen. Vereint legten sie
ihre Kraft in die Riemen. Jacquotte kam es vor, als
verharrten sie auf der Stelle. Die Wellen drückten sie
beinahe unter Wasser. Herausfordernd reckte sie ihr Gesicht
dem Himmel entgegen und starrte die Blitze an. Die rote
Jacquotte und der Tod. Das war ihr Schicksal.
François L’Olonnais sah ihnen hinterher. Er konnte nicht
glauben, was geschah. Nicht die Tatsache, dass sie ihm
erneut entkommen war, zerrte an seinen Nerven, sondern dass
sie offensichtlich mehr Mut besaß, als jeder, den er kannte.
Bei diesem Wetter auf das offene Meer hinauszusegeln,
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