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Joli Rouge (German Edition)

Joli Rouge (German Edition)

Titel: Joli Rouge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Fischer
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gewesen wäre. Aber etwas in ihm war mit
Jacquotte untergegangen und mit Jérôme verblutet. Er hatte
sich verändert. Er lebte das Leben eines anderen, sah dessen
Kinder aufwachsen und lag bei dessen Frau, auch wenn es für
beide mehr Trost als Begehren war. Er stand abrupt auf. Ließ
er zu, dass sich seine Gedanken verselbstständigten, verlor
er obendrein seine Beherrschung. Unfähig, seine Trauer zu
verarbeiten, überlagerte er diese Erkenntnis nicht selten
mit Wut.
    »Ruhe«, herrschte er die Kinder an, und das Gelächter
verstummte. Überrascht richteten sie ihre Augen auf ihn, und
Pierre überkamen Schuldgefühle. So verhielt es sich immer.
Cajaya eilte herbei, warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu
und brachte die Jungen außer Sichtweite. Er sank erschöpft
zurück in den knarrenden Schaukelstuhl und barg das Gesicht
in den Händen. Sein Kopf schmerzte. Was war er nur für ein
Mensch geworden?
    Als er einige Stunden später dem schmalen Pfad in Richtung
Cayone folgte, waren die Kopfschmerzen nicht gewichen. Im
Gegenteil, die intensive Sonne verstärkte das Pulsieren
hinter seinen Schläfen noch und machte den Weg hinab in die
Stadt zu einer regelrechten Qual. Unterwegs begegnete er
Moïse Vauquelin, einem ruhigen Gesellen aus der Normandie,
den Pierre zu schätzen gelernt hatte. Obwohl er sich bereits
seit über zehn Jahren im Gebiet der Westindischen Inseln
aufhielt, hatte Vauquelin erst vor kurzem beschlossen, sich
auf der Île de la Tortue anzusiedeln. Mit ihm kamen weitere
französische Siedler auf die Insel, die dem verlockenden Ruf
von Bertrand D’Ogeron, dem neuen Gouverneur der Île de la
Tortue, gefolgt waren, um eine
fille du roi
zu ehelichen.
Diese sogenannten Töchter des Königs waren Frauen der
unteren Schichten Frankreichs, nicht selten Waisen, die
aufgrund ihrer Armut keine andere Möglichkeit sahen, als
sich dem Aufruf ihres Landesvaters zu stellen. Für eine
Mitgift von 50 Livres und der Übernahme der Kosten für die
Schiffspassage brachen sie auf, um ihren Beitrag zur
Besiedlung der Kolonien zu leisten. D’Ogeron verstand es wie
kein Gouverneur vor ihm, der Insel ein Ansehen zu verleihen,
das selbst der französische König nicht übersehen konnte. Es
war mittlerweile keine Seltenheit mehr, dass Frauen und
Kinder das Straßenbild von Cayone prägten. Eine Tatsache, an
die sich Pierre erst langsam gewöhnte. Mit einer
Entschlossenheit, die ihn staunen ließ, baute D’Ogeron die
Insel zu einer Kolonie aus, die der neu gegründeten
compagnie des indes occidentales
unterstellt war und nur
einem einzigen Zweck diente: dem Handel mit Frankreich.
    Moïse Vauquelin nickte Pierre freundlich zu, und sie
spazierten nebeneinander her. Als Kapitän eines
Handelsschiffes war Vauquelin weit gereist. Er galt als
bescheiden, überaus bewandert in der Navigation und war mit
einem umfangreichen Wissen über die Häfen der Spanier
gesegnet. Nicht umsonst war er rasch zu einem Vertrauten von
Bertrand D’Ogeron geworden. Pierre wusste seine Begleitung
zu schätzen. Bedächtig folgten sie dem breiter werdenden
Pfad hinunter zu den ersten Ansiedlungen, die sich mit jedem
Jahr weiter ins Landesinnere fraßen. Viele der hohen
Aloepflanzen, die noch bis vor kurzem ein alltäglicher
Anblick gewesen waren, mussten neuen Gebäuden weichen.
Pierre beobachtete diese Veränderungen mit Unmut.
    Als sie auf das Haus von Bertrand D’Ogeron zuhielten,
nickte er den Kapitänen zu, die er bereits von
vorangegangenen Treffen kannte, und folgte Vauquelin ins
Innere des zweistöckigen Anwesens, das mit seiner
Fensterfront den Hafen überblickte. Bertrand D’Ogeron hatte
es von seinem Vorgänger übernommen und nur minimale Umbauten
vornehmen lassen. Im Vergleich zu opulenteren Gebäuden, die
mittlerweile in der Nähe des Hafens errichtet worden waren,
wirkte es bescheiden. Pierre wusste, das gehörte zum Ruf,
den der neue Gouverneur pflegte. Es schien, als wäre es ihm
lieber, von den Männern unterschätzt zu werden. Nach außen
gab er sich als zurückhaltendes Oberhaupt der Stadt, doch
Pierre glaubte, dass er einen unbezwingbaren Willen hatte,
der in einem Geist voll fortschrittlicher Ideen hauste. Er
konnte nicht leugnen, dass er ihn mochte, obgleich er es
nicht gerne sah, dass sich seine Heimat in Abhängigkeit zu
Frankreich begab. D’Ogeron regierte weise und holte die
wichtigen Kapitäne von Cayone regelmäßig an seinen Tisch. Er
teilte seine

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