Joli Rouge (German Edition)
kam
einem Selbstmord gleich!
Reglos verfolgte er das Setzen der Gaffelsegel. Fast
geisterhaft durchschnitt das schwarze Schiff die Wogen. Noch
schützte das vorgelagerte Riff seine Reise. L’Olonnais
wischte sich das Wasser aus den Augen. Gewaltige Brecher
markierten das Ende der Hafenbucht. Mit gebauschten Segeln
hielt die
Fortune Noire
darauf zu. L’Olonnais hielt sich
schützend die Hände vors Gesicht. Um ihn herum kreischte der
Hurrikan. Palmenblätter, Äste, Bretter und heruntergerissene
Kokosnüsse fegten über den menschenleeren Steg und wurden
von den Wellen aufgefangen. Das Schiff verschwamm vor seinen
Augen. Es bäumte sich auf, stellte sich seinem natürlichen
Feind. Der Großmast brach unter der Wucht der schlagenden
Takelage und die Segel zerrissen. Mit unmenschlichem Gebrüll
fiel das hungrige Meer über die
Fortune Noire
her. Sie
wehrte sich, kam wieder hoch und rollte zur Seite. Doch der
Feind war da. Er zog an ihr und riss ihr die Planken auf.
Ein letztes Mal zeigte sich der Bug, dann gab sie endlich
nach. Eine mächtige Woge rollte heran, umarmte sie und zog
sie mit sich. L’Olonnais spuckte aus. Es war vorüber.
Kapitel 8
Île de la Tortue, Frühling 1666
Die Blätter der umliegenden Bäume raschelten, als eine
milde Brise durch sie hindurchfuhr. Die ersten Strahlen der
Morgensonne trockneten den Tau, der die jungen Tabakpflanzen
wie Edelsteine bedeckte. Aus dem nahegelegenen Wald war
Kinderlachen zu hören. Pierre atmete die würzige Luft ein
und beobachtete Cajaya, die dabei war, Fagioli-Bohnen zu
ernten. Ihre Bewegungen waren fließend, ihre Handgriffe
geübt. Er sah ihr gerne bei ihren gewohnten Tätigkeiten zu.
Später würde sie die Bohnen mit Fleisch und frischen Eiern
so lange kochen bis eine schmackhafte Suppe entstand, die am
frühen Abend gereicht wurde, wenn es nicht mehr so heiß war.
Pierre lehnte sich entspannt im Schaukelstuhl zurück und
genoss den Rhythmus des Tages. Wenn die Sonne den Zenit
erreichte, musste er in die Stadt hinuntergehen, aber noch
war es nicht soweit. Er schloss die Augen. Mit gedämpften
Schritten huschte Cajaya mehrmals an ihm vorbei, um ihre
Ernte ins Haus zu bringen, bevor sie Pierre einen Becher mit
maby
reichte. Er dankte ihr stumm und schlürfte das
handwarme Getränk. Cajaya verstand sich auf die Rezepte
ihres Volkes und braute den säuerlichen Trank genauso, wie
ihre Mutter es ihr einst beigebracht hatte. Rohe
patatas
wurden dazu kleingeschnitten und mit Wasser übergossen,
bevor man das Gemisch durch ein Tuch in hohe Gefäße abseihte
und es mehrere Tage lang gären ließ. Das Ergebnis war ein
nahrhafter Trunk, den nicht nur Pierre zu schätzen wusste.
Mit lautem Gebrüll jagten die Kinder auf das Haus zu.
Allen voran rannte Arijua, Jérômes ältester Sohn. Bis auf
ein Paar ausgefranste Hosen war er nackt und zog das zahme
Schwein, das er einst als Ferkel im Unterholz entdeckt
hatte, an einem Strick hinter sich her. Bajacu, der
Zweitgeborene, schlug dem Schwein kreischend mit einem Zweig
auf das kräftige Hinterteil, um es anzutreiben. Das Tier
grunzte verdrießlich, was seine runde Schnauze heftig
vibrieren ließ. Manuel, der als Letzter folgte, und dem vor
Anstrengung Speichel aus dem Mund lief, lachte über das
ganze Gesicht. Pierre sah den Drei entgegen, während sie
atemlos die Stufen erklommen, erschöpft auf die Veranda
plumpsten und nach ihren Bechern mit
maby
griffen. Das
Schwein labte sich derweil an Cajayas Kräutern, bis sie es
schimpfend davonscheuchte. Pierre lächelte. Es hatte Zeit
gebraucht, bis sich ihm das Glück offenbarte, das eine
Familie zu geben vermochte. Trotzdem war ihm bewusst, dass
er sich nicht an dem Punkt befand, den Jérôme erreicht
hatte, bevor er erschossen wurde.
Jérôme. Pierre schluckte. Sein Verlust saß tief. Nie hätte
er geglaubt, dass ihn der Tod des Flibustiers derart treffen
würde. Um genau zu sein, wusste er nicht einmal, ob er mehr
um ihn trauerte oder um Jacquotte. Die Gefühle gehörten
zusammen. Ähnlich wie die Nachricht, die er nach seiner
Rückkehr erhalten hatte. Beide waren während des Sturms ums
Leben gekommen, wenn auch jeder von ihnen auf eine andere
Weise. Er hatte tagelang getrauert und tat es bis zum
heutigen Tag. Zwar ließ er es sich nicht anmerken, fuhr zur
See, diente der Bruderschaft und übernahm die Fürsorge für
Jérômes Familie, die ohne einen Beschützer jeglicher Willkür
ausgeliefert
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