Joli Rouge (German Edition)
Abstand zwischen ihnen.
»Dann werde ich die Gebote der Natur eben ändern, Jérôme!
Mir ist es nicht bestimmt zu heiraten. Aber sei unbesorgt,
ich werde dir nicht zur Last fallen. Ich habe bereits einen
Plan.« Sie raffte das Fleisch zusammen, das neben dem
erlegten Schwein lag.
Jérôme sah ihr dabei zu und wischte sich Blut und
Regenwasser aus dem Gesicht. Er folgte ihr nicht, als sie
zwischen den Bäumen verschwand.
Kapitel 3
Port de Margot, La Española, Winter 1658
Jacquotte stand auf einer Anhöhe und sah auf die
halbmondförmige Bucht hinunter, die sich vor ihr
ausbreitete. Das Wasser war so klar, dass sie selbst aus der
Entfernung Fischschwärme ausmachen konnte, die zwischen den
ankernden Schiffen ihre Kreise zogen. Es war ein heißer Tag,
der die Luft zum Flirren brachte und die Grillen ekstatisch
zirpen ließ. Die aufgesteckten Haare juckten unter dem
straff gebundenen Tuch und der speckige Lederhut machte die
Stirn taub, weil er zu eng auf ihrem Kopf saß. Sie fühlte,
wie ihr Schweißperlen den Rücken hinab liefen und von dem
Bund der weiten Hose geschluckt wurden, die sie mit einem
Gürtel davon abhielt, ihr von den Hüften zu rutschen. Einzig
das Leinenhemd und die durchlöcherte, schwarze Weste waren
ihre eigenen Sachen. Die restlichen Kleidungsstücke hatte
sie in den Nächten vor ihrem Aufbruch besorgt, und weil dies
in aller Heimlichkeit geschehen war, durfte sie nicht
wählerisch sein. Hätte man sie erwischt, wäre sie mit
Sicherheit aufgeknüpft worden.
Diebstahl war verpönt unter den Brüdern. Riegel fanden
keine Verwendung, keine Kiste und keine Hütte wurde
verschlossen. Jede erbeutete Dublone wurde sofort verprasst
und alleiniges Eigentum an Sachen kannten die Männer nicht.
Das Leben fand an dem Tag statt, der gerade andauerte, nicht
an den darauf folgenden. Alles kam der Gemeinschaft zugute.
Gegenstände von Wert trug man am Körper mit sich, ebenso
Waffen und Münzen. Besonders die Kleidung war den Männern
heilig. Fuhren sie zur See, erkannte man sie an den
schillernden Farben ihrer Garderobe. Glänzende Knöpfe oder
Stiefel mit blank polierten Schnallen sowie purpurne Westen
und Schärpen standen hoch im Kurs. Die Jäger dagegen
bevorzugten schlichte Gewänder. Jacquotte hatte nehmen
müssen, was sich in Reichweite befand. Außer dem roten Tuch,
das ihre Haare verbarg, sah sie wie ein gewöhnlicher
Schweinejäger aus, der durch das Dickicht pirschte. Doch
genau das war ihr Plan.
Als sie Manuel vor sechs Tagen kurz vor der
Morgendämmerung an Jérômes Hütte band, war sie in dem
Bewusstsein aufgebrochen, von nun an nicht mehr die rote
Jacquotte, sondern Yanis le Jouteur zu sein. Yanis, der
Kämpfer. Sie mochte ihren neuen Namen, doch ihr mutiges
Wagnis bereute sie so kurz vor ihrem Eintreffen in Port de
Margot ein wenig. Das grobe Leinen, das sie sich um die
Brust gebunden hatte, um ihren Busen verschwinden zu lassen,
hinderte sie am Atmen und kratzte auf der empfindlichen
Haut. Am liebsten hätte sie sich ihre Verkleidung vom Leib
gerissen, um durchzuatmen und wieder sie selbst sein zu
können. Ärgerlich krümmte sie die Zehen in den derben
Schuhen, deren steife Nähte ihr bereits Blasen gerieben
hatten. Ein Lederbeutel hing schwer an ihrer Hüfte und
erinnerte sie daran, dass sie Jérôme um sein Erbe an den
Golddublonen erleichtert hatte, die Émile zu Lebzeiten unter
einem Baum versteckt hielt. Vermutlich war das nach dem
Kodex ebenfalls verboten, aber ihr Vater hatte sich nichts
aus dem Geld gemacht, und das Versteck einzig seiner Tochter
anvertraut. Die Götter allein wusste, welche Absichten ihn
zu dieser Tat getrieben hatten.
Den Schatz in der sicheren Dunkelheit auszugraben, hatte
neben den wertvollen Münzen auch Erinnerungen an Émile
zutage gefördert. Was hätte ihr Vater davon gehalten, sie
als Mann verkleidet in eine selbstbestimmte Zukunft
aufbrechen zu sehen? Jacquotte seufzte. Sie musste mit den
Grübeleien aufhören! Wenn sie nicht an Manuel dachte, den
sie zurückgelassen hatte, zerbrach sie sich den Kopf über
ihren Vater oder Pierre. Doch keiner von ihnen konnte ihr
dabei helfen, den Mut zusammenzunehmen und in die Stadt zu
gehen, von der sie sich so viel erhoffte.
Port de Margot, Sammelpunkt der Bukaniere und Flibustier.
Alle erwarteten dort die Ankunft von Jérémie Deschamps du
Rausset, der von Louis XIV. zum Gouverneur und
Generalleutnant der Île de la Tortue ernannt
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