Joli Rouge (German Edition)
Vorstellung, in der drückenden Hitze Kisten schleppen zu
müssen, war ganz und gar nicht erbaulich. Aber vielleicht
konnte sie bereits erste Kontakte knüpfen. Von Jan schien
keine Gefahr auszugehen. Hoffentlich galt das auch für den
Mann, für den er arbeitete.
»Wo kommste her?«, wollte der Junge wissen.
»Aus den westlichen Wäldern.«
»Dann biste in der Tat `n Schweinehirte, he?«
»Ich bin Bukanier.« Jacquotte verpasste ihm einen
Nasenstüber.
»Sag ich’s doch. Schweinehirte!«
Sie sah in seine frechen Augen. »Du solltest darum beten,
dass dir nicht eines Tages jemand deinen vorwitzigen Kopf
abschneidet.«
»Wer das versucht, muss erst an Tête-de-Mort vorbei.« Jan
streckte ihr die Zunge heraus und rannte los.
Jacquotte vermochte nicht zu sagen, woher er in dieser
glühenden Hitze die Energie dazu nahm, aber sie heftete sich
verbissen an seine Fersen.
»Sag mir, woher hat Tête-de-Mort seinen Namen?« Sie
versuchte, nicht nach Luft zu schnappen, als sie Jan
einholte. Dieser schmunzelte.
»Sieh ihn dir an, wenn du`s wagst.«
Sie blickte auf das schwarze Schiff, das vor der Küste vor
Anker lag. Ruderboote verkehrten emsig zwischen ihm und dem
Festland. Der Zweimaster sah nicht besonders eindrucksvoll
aus, wie er mit eingeholten Segeln in den Wellen schaukelte.
Jan folgte ihrem Blick.
»Is‘ `ne Brigantine«, erklärte er. »Rahsegel am Fockmast,
Gaffel- und Rahsegel am Großmast. Segelt höher am Wind als
`ne Brigg.«
»Es ist nicht besonders groß«, bemerkte sie.
Jan warf ihr einen abschätzenden Blick zu. »Bist `ne
Landratte, he? Je `nen Fuß auf `n Schiff gesetzt?«
Sie schüttelte den Kopf, worauf Jan wissend nickte.
»Größere Schiffe benötigen viel Arbeit, `ne größere Crew und
das bedeutet weniger Prise für jeden von uns. Lohnt nicht.
Wenn’s dich interessiert, Tête-de-Mort sucht immer Leute.
Selbst Schweinehirten.«
»Mit diesem Tête-de-Mort segelt man wohl nicht gerne?«,
mutmaßte Jacquotte und war neugierig, wie der Kapitän
aussah, der diesen schauerlichen Namen trug.
»Komm!« Jan sprang über einige Kisten und zog am
Rockzipfel eines groß gewachsenen Mannes, der in Schwarz
gekleidet war und ihnen seinen imposanten Rücken zudrehte.
»Hab `nen Dummen gefunden«, erklärte er dem Riesen und
zwinkerte ihr zu. »Is `n Schweinehirte aus`m Wald. Yanis is`
sein Name.«
Der Mann drehte sich um, und Jacquotte fiel vor Erstaunen
die Kinnlade herunter. Vor ihr stand der widerwärtigste
Mensch, den sie je gesehen hatte. Sein Gesicht war völlig
zerfressen. Dort, wo einst die Nase gewesen war, prangte ein
Loch und gab den Blick auf den dahinterliegenden Knorpel
frei, der sich weiß aus dem fleischigen Narbengewebe erhob.
Seine Oberlippe war ebenfalls verwachsen und zeigte die
obere Zahnreihe. Es war, als wenn er die Zähne fletschte.
Ein wild wucherndes Geschwür fraß sich weiter über die linke
Gesichtshälfte und hatte das gesunde Gewebe bereits bis zum
Ohr zerstört. Einzig der rechte Teil ließ vermuten, dass er
früher ein gut aussehender Mann gewesen sein musste. Er trug
das schwarz gewellte Haar zu einem Zopf gebunden und war
ordentlich rasiert. Seine grünen Augen blickten lebhaft und
standen damit im Gegensatz zum sonstigen Verfall in seinem
Gesicht. Sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren.
Herausfordernd hob er das Kinn. »Gefällt Euch, was Ihr
seht?«, fragte er ruhig und tätschelte Jan den Kopf.
»Ihr tragt Euren Namen wahrlich nicht umsonst«, entfuhr es
Jacquotte.
Tête-de-Mort lachte, was überaus makaber aussah. »Und Ihr
tragt Euer Herz auf der Zunge. Ich weiß das zu schätzen,
werter Yanis.« Er betonte ihren Namen und sie beschlich das
unbehagliche Gefühl, als sehe er Dinge, die selbst ihr
verborgen blieben. »Wohin führt Euch Euer Weg?«
»Ich möchte nach Port de Margot.«
»Und was sucht Ihr in dieser ehrenwerten Stadt?«
»Ich möchte der Bruderschaft beitreten.« Jacquotte wurde
es unwohl zumute. Tête-de-Mort studierte aufmerksam ihr
Gesicht und zeigte erneut sein schauerliches Grinsen. Sie
fröstelte trotz der Hitze, die sie umgab.
»Sieh an, eine Landratte, die zur See fahren will. Genügt
Euch das Leben als Schweinehirte nicht?«
»Das Leben auf See erscheint mir erstrebenswerter«,
antwortete sie ausweichend.
»Ersehnt man nicht immer am meisten, was man nicht hat?«
Er sah sie so eindringlich an, dass Jacquotte endlich den
Blick senkte.
»Wenn Ihr es sagt«, murmelte
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