Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Hand unter die Matratze.
Er fand keine Spur von einem Messer, sei es nun aus Glas oder Stahl. Die Zweifel erwachten wieder. Hatte sein Vater doch die Wahrheit gesagt? War die Fremde mit den langen Fingernägeln wirklich nur seiner Einbildung entsprungen? Sein Schädel schmerzte. Plötzlich wusste er nicht mehr, was er noch glauben sollte. Er musste etwas unternehmen, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Er beschloss, in die Stadt zu fahren. Auf dem Weg zur Tür kam ihm sein Vater entgegen. Seine nassen Haare klebten auf der Stirn, und er trug ein Handtuch um die Hüfte. Die Dusche hatte ihm gut getan, er hatte die Kontrolle wieder.
»Du fährst weg?«
»Zu Markus«, sagte Jonathan. In Wahrheit wusste er nicht, was er mit seiner Zeit anfangen wollte. Aber diese kleine Notlüge ersparte ihm lästige Erklärungen.
»Vergiss nicht, dass heute Abend die Bergmanns zum Essen kommen. Also versuche, pünktlich zu sein, sonst gibt’s wieder Ärger mit der Chefin. Ich meine deine Mutter.«
Jonathan nickte abwesend, warf sich die Jacke über und verließ das Haus. Der Tag empfing ihn mit herrlichem, nach Grillasche duftendem Sommerwind und Schäfchenwolken am blauen Himmel. Er ging zu seinem Fahrrad, das an der Dachrinne unter dem Küchenfenster angekettet war, und durchwühlte seine Taschen nach dem Schlüssel. In diesem Moment hörte er die Stimme seiner Mutter.
»Ist er weg?«, fragte sie leise.
»In die Stadt gefahren«, sagte Cornelius.
Intuitiv ging Jonathan in die Hocke. Seine Eltern hatten offenbar auf den Moment gewartet, ungestört reden zu können. Sie ahnten nicht, dass er jedes Wort mithörte.
»Was ist los?«, fragte Cornelius – und ließ gleich darauf einen scharfen Atemzug hören. Jonathan konnte förmlich sehen, wie er erschrak.
»Grundgütiger!«, murmelte er. Und noch einmal: »Grundgütiger Himmel!«
Die Stimme seiner Mutter klang schwach: »Besser, du setzt dich.«
»Ich will jetzt nicht sitzen, danke. Wo zum Teufel kommt das her? Wo hast du das gefunden?«
»Es war auf dem Bett«, sagte Helena. »Neben meinem Kissen. Ist anscheinend gestern Nacht da reingerutscht. Ich habe es versteckt, bevor Jonathan es finden konnte.«
Das gläserne Messer! Seine Mutter hatte es also vor ihm entdeckt.
Cornelius seufzte müde. »Dabei habe ich wirklich gehofft, dass er nur geträumt hat.«
»Geträumt? Was meinst du damit? Cornelius, was geschieht hier?«
Er zögerte mit seiner Antwort, wählte jede Silbe sorgsam. »Jonathan hat mir heute beim Frühstück erzählt, dass er gestern Nacht eine Frau mit langen Fingernägeln gesehen habe.«
Helenas Stimme zitterte. »Sie hat ihn gesehen … Mein Gott, Cornelius!«
»Es kommt noch schlimmer. Sie hat mit ihm gesprochen. Jonathan weiß nicht mehr, worüber. Sie hat wahrscheinlich einen ihrer Tricks versucht und seine Erinnerung verwirrt. Aber es hat nicht funktioniert.«
Jonathans Herz sank, als er hörte, dass seine Mutter mit den Tränen kämpfte. Sie war eine zierliche Frau, mit Haut so hell wie Elfenbein und einem schmalen Gesicht, das von dunkelroten Locken umrahmt wurde. Doch die Anmutung einer Porzellanpuppe täuschte; sie war viel stärker, als es ihr Äußeres vermuten ließ. Jonathan konnte sich kaum daran erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte.
»Wir müssen hier weg! Sofort! Cornelius, wir dürfen keine Sekunde länger hierbleiben!«
»Weißt du, was du da sagst?«
»Verdammt, ja! Und du weißt, dass ich recht habe. Die Gerüchte sind wahr. Sie spioniert für den Feind. Und selbst wenn nicht … Cornelius, wir können nicht warten. Wenn sie uns gefunden hat, dann wird es nicht lange dauern, bis auch andere kommen …«
»Eine überstürzte Flucht wäre der größte Fehler«, warf Cornelius ein. »Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren! Das Messer war eine Botschaft. Sie will mit uns sprechen. Tun wir ihr den Gefallen und finden heraus, was sie von uns will.«
»Wir dürfen ihr nicht trauen! Sie spielt ein falsches Spiel.«
»Helena, wir dürfen niemandem trauen. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass wir uns nicht dauerhaft vor ihr verstecken können. Besonders jetzt nicht mehr.«
»Sie hat Jonathan gesehen.«
»Ja. Das lässt sich nicht mehr ändern. Zumindest weiß er nichts.« Er atmete tief durch und versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Wir müssen wachsam sein. Dann kann uns nichts geschehen.«
»Du hast recht.«
»Ich habe immer recht, schon vergessen?« Er lachte leise.
Sie schien sich ein wenig zu beruhigen,
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