Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
ihre Stimme wurde fest und entschlossen, so wie Jonathan seine Mutter kannte. »Wir müssen das Essen mit Henry und Margit absagen. Ich rufe in der Klinik an und melde mich krank. Heute Nacht, Punkt zwölf, benutzen wir das Messer.«
»Keine Sorge, Schatz«, sagte Cornelius. »Wir haben Jonathan immer beschützt. Niemand kann uns etwas anhaben. Nicht, solange wir drei vereint sind.«
Diese Worte klangen wie Hohn in Jonathans Ohren. Seine Eltern hatten Geheimnisse vor ihm, sie hatten ihn getäuscht und belogen, vielleicht schon sein Leben lang. Sie würden ihm niemals freiwillig verraten, was sie mit dieser verrückten Fremden zu schaffen hatten. Er musste die Wahrheit selbst herausfinden, noch heute Nacht!
* * *
Er verbrachte den Tag in der Stadt, in Gedanken versunken und von Fragen geplagt. Als es Abend wurde, kehrte er zurück. Cornelius und Helena waren mit dem Essen beschäftigt. Sie gaben sich fröhlich und taten so, als ob alles in bester Ordnung wäre. Nur die Augen seiner Mutter verrieten die Wahrheit. Helena war nie eine gute Lügnerin gewesen; ihre Lippen mochten lächeln, doch ihre Augen verrieten stets die Wahrheit. Dieses Mal war es besonders schlimm. Sie wirkte abwesend, direkt fahrig in ihren Bewegungen. Im Vorbeigehen gab sie ihm einen Kuss auf den struppigen Haarschopf.
»Na, Schatz? Wie war’s bei Markus?«
»Ganz gut«, log Jonathan. »Hast du heute Abend keinen Dienst?«
»Sie haben den Plan geändert. Und die Bergmanns haben abgesagt. Das bedeutet, wir können den Abend im Kreis unserer kleinen Familie verbringen. Wie klingt das?«
»Toll«, antwortete Jonathan ohne viel Begeisterung.
Cornelius betrat die Küche. Ihm gelang die Scharade deutlich besser als Helena. Er balancierte Teller und einen Topf auf den Esstisch und lächelte, als er seinen Sohn sah.
»Jonathan! Da bist du ja endlich. Hier, wir haben dein Lieblingsessen gekocht: Spaghetti Bolognese. Reichlich Kohlehydrate und dazu eine Fertigsoße mit viel Mononatriumglutamat und anderen ungesunden Geschmacksverstärkern. Na, was sagst du? Da läuft einem doch das Wasser im Mund zusammen.«
Sie spielten Theater, und zwar schlechtes. Das war es, was Jonathan sagen wollte. Aber er hielt den Mund und setzte sich an den Tisch, um mitzuspielen. Trotz aller Bemühungen seiner Eltern war es deutlich zu spüren, dass etwas in der Luft lag. Helena schöpfte Nudeln auf seinen Teller. Jonathan stocherte darin herum, ohne einen Bissen herunterzubekommen. Cornelius bemerkte es, ging aber nicht darauf ein.
»Jonathan, wir würden heute Abend gern ins Kino gehen«, sagte er schließlich.
Sie wollten ihn darauf vorbereiten, dass sie heute Nacht das Haus verließen. Eine bessere Ausrede war ihnen scheinbar nicht eingefallen.
»In die Spätvorstellung«, fügte Helena rasch hinzu. »Wir haben das Handy dabei. Falls irgendetwas sein sollte.«
»Du hast doch nichts dagegen, noch einmal das Haus zu hüten? Oder soll ich Tante Sybille fragen, ob sie auf dich aufpasst?«
Jonathan verstand es als Drohung. Sybille war eine humorlose Kuh mit dem Habitus eines Armee-Aufsehers. Er konnte sie nicht ausstehen.
»Ich brauche keinen Babysitter!« Er hatte genug von diesem dummen Spiel. »Was dagegen, wenn ich ins Bett gehe?«
Helena blickte ihn erschrocken an. »Um diese Zeit? Schatz, du hast doch praktisch nichts gegessen. Bist du krank?«
»Ich habe schon bei Markus gegessen«, log er. »Außerdem will ich noch ein Buch zu Ende lesen.«
»Geh ruhig. Die Ferien haben ja gerade erst begonnen«, sagte Cornelius – ganz ohne die Augen zu verdrehen, wie er es sonst tat, wenn Jonathan einen seiner Romane erwähnte.
Er sprang auf und wollte in seinem Zimmer verschwinden.
»Jonathan! Warte«, rief Helena.
Er blieb stehen und drehte sich noch einmal zu seiner Mutter um. Sie wirkte plötzlich sehr verletzlich, gar nicht so stark und selbstbewusst wie sonst. Auch ihr Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich Sorgen machte.
»Ist wirklich alles gut?«
Er zögerte. »Ja.«
»Du weißt, dass wir immer für dich da sind, oder?«
Die Frage überraschte Jonathan. Was sollte er darauf erwidern? Helena umarmte ihn, wie sie es immer tat, wenn er traurig war. Am liebsten hätte er sie einfach eine Weile festgehalten, aber er kam sich dumm dabei vor und löste sich wieder.
»Schlaf gut, mein Schatz«, sagte sie liebevoll.
»Du auch.«
Er ging in sein Zimmer, warf sich auf sein Bett und starrte aus dem Fenster. Leuchtendes Abendrot
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