Jonathan Strange & Mr. Norrell
und zahllose uneheliche Kinder zu ernähren und auszubilden hatten – für sehr anständig von ihm hielten.
Früh am nächsten Tag ritt Strange nach Windsor Castle, um dem König aufzuwarten. Es war ein bitterkalter Morgen, überall waberte dichter weißer Nebel. Unterwegs zauberte er dreimal. Der erste kleine Zauber sorgte dafür, dass die Willise wesentlich länger als gewöhnlich schliefen; der zweite bewirkte, dass die Frauen und Dienstboten der Willise vergaßen, sie zu wecken; und der dritte Zauber hatte zur Folge, dass Kleider und Stiefel der Willise, wenn sie denn endlich erwachten, nicht mehr dort waren, wo sie sie am Abend zuvor gelassen hatten. Noch vor zwei Jahren hätte Strange große Skrupel gehabt, zwei Fremden auch nur einen so harmlosen Streich zu spielen, aber jetzt hatte er keinerlei Bedenken mehr. Wie viele andere Herren, die mit dem Herzog von Wellington in Spanien gewesen waren, hatte er, ohne es zu merken, angefangen, Seine Durchlaucht nachzuahmen, die immer auf möglichst direkte Art handelte. 79
Gegen zehn Uhr überquerte er auf einer kleinen Holzbrücke im Dorf Datchet die Themse. Dann ritt er auf der Straße zwischen Fluss und Schlossmauer in die Stadt Windsor. Am Schlosstor teilte er der Wache seinen Namen und den Grund seines Besuchs mit. Ein Dienstbote in einer blauen Livree kam, um ihn in die Gemächer des Königs zu geleiten. Der Diener war ein höflicher intelligenter Mann, der – wie es oft der Fall ist bei Dienstboten in prachtvollen Anwesen – ungemein stolz war auf das Schloss und alles, was damit zu tun hatte. Sein größtes Vergnügen im Leben bestand darin, die Leute durch das Schloss zu führen und ihr Erstaunen, ihren gewaltigen Respekt und ihre Verblüffung zu beobachten. »Es handelt sich gewiss nicht um Ihren ersten Besuch im Schloss, Sir?«, lautete seine erste Frage.
»Im Gegenteil. Ich war noch nie zuvor hier.«
Der Mann schien entsetzt. »Dann, Sir, ist Ihnen bislang eine der vortrefflichsten Sehenswürdigkeiten entgangen, die England zu bieten hat.«
»Wirklich? Nun, jetzt bin ich ja hier.«
»Aber Sie sind aus beruflichen Gründen hier, Sir«, entgegnete der Diener vorwurfsvoll, »und werden wohl nicht die Muße haben, sich alles richtig anzusehen. Sie müssen wiederkommen, Sir. Im Sommer. Und falls Sie verheiratet sind, erlaube ich mir die Bemerkung, dass Damen immer besonderen Gefallen am Schloss finden.«
Er führte Strange durch einen Hof von beeindruckender Größe. Einst musste er in Kriegszeiten als Zufluchtsort für viele Menschen und ihr Vieh gedient haben, und es standen noch ein paar schlichte Gebäude, die den ursprünglich militärischen Charakter des Schlosses bezeugten. Aber im Laufe der Zeit gewann der Wunsch nach königlichem Pomp und Glanz die Überhand über die nützlicheren Überlegungen, und eine prächtige Kirche war gebaut worden, die fast den ganzen Platz einnahm. Diese Kirche (Kapelle genannt, aber tatsächlich eher von den Ausmaßen einer Kathedrale) wies all die schmückenden und komplexen Merkmale auf, deren der gotische Stil fähig ist. Sie war bewehrt mit stachligen steinernen Strebepfeilern, gekrönt von steinernen Zinnen und blähte sich vor Kapellen, Andachtsräumen und Sakristeien.
Der Diener führte Strange an einem steilen Wall mit glatten Abhängen vorbei, auf dem ein runder Turm aufragte, der aus der Ferne am leichtesten erkennbare Teil des Schlosses. Durch ein mittelalterliches Tor betraten sie einen zweiten Hof, der nahezu ebenso proportioniert war wie der erste. Aber während der erste Hof von Dienstboten, Soldaten und anderen Bediensteten des Haushalts bevölkert wurde, war der zweite leer und still.
»Es ist jammerschade, dass Sie nicht schon vor ein paar Jahren gekommen sind, Sir«, sagte der Diener. »Damals konnte man nach Voranmeldung beim Hauswirtschafter die Gemächer des Königs und der Königin besichtigen, aber aufgrund der Krankheit Seiner Majestät ist das jetzt nicht mehr möglich.«
Er führte Strange zu einem imposanten gotischen Tor in der Mitte einer langen Reihe von steinernen Gebäuden. Während sie eine Treppe hinaufgingen, fuhr er fort, die vielen Hindernisse zu beklagen, die es Strange verwehrten, das Schloss zu besichtigen. Er nahm an, dass Strange deswegen über die Maßen enttäuscht war. »Ich hab's!«, erklärte er plötzlich. »Ich werde Ihnen St. George's Hall zeigen. Es ist zwar nicht der hundertste Teil dessen, was Sie sehen sollten, Sir, aber Sie werden einen Eindruck bekommen von
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