Jonathan Strange & Mr. Norrell
nicht einmal ein Drittel der von ihm für unerlässlich erachteten Bücher unterbrachte; er fragte Childermass, wie die Menschen in London ihre Bücher aufbewahrten. Vielleicht lasen sie nicht?
Mr. Norrell war gerade drei Wochen in London, als er einen Brief von einer Mrs. Godesdone erhielt, einer Dame, von der er nie zuvor gehört hatte.
»... ich weiß, es ist sehr chokierend , dass ich Ihnen schreibe, ohne Sie überhaupt zu kennen & zweifellos werden Sie sich fragen, wer ist diese unverschämte Greatur? Ich wusste nicht, dass es so eine Person giebt. Und wahrscheinlich halten Sie mich für chokierend dreist etc., etc., aber Drawlight ist ein lieber Fruend von mir und versichert mir, dass Sie die gutmütigste Greatur der Welt sind und nicht böse sein werden. Ich kann es nicht erwarten, Sie kennen zu lernen, und würde es als größte Ehre der Welt betrachten, wenn Sie uns das Vergnügen Ihrer Gesellschaft auf einer abendlichen Party diesen Donnerstag gewehren. Lassen Sie sich nicht davon abschreken, dass ein paar Leute kommen werden – ich mag nichts so wenig wie viele Leute und werde nur meine engsten Fruende einladen ...«
Der Brief machte keinen guten Eindruck auf Mr. Norrell. Er las ihn rasch durch, legte ihn mit einem Ausruf des Ekels weg und wandte sich wieder seinem Buch zu. Kurz darauf kam Childermass, um sich um die morgendlichen Geschäfte zu kümmern. Er las Mrs. Godesdones Brief und erkundigte sich, wie Mr. Norrell zu antworten gedachte.
»Mit einer Absage«, sagte Mr. Norrell.
»Wirklich? Und soll ich schreiben, dass Sie an diesem Abend schon etwas vorhaben?«, fragte Childermass.
»Natürlich, wenn du willst«, sagte Mr. Norrell.
»Und haben Sie schon etwas vor?«, fragte Childermass.
»Nein.«
»Aha!«, sagte Childermass. »Dann sind vielleicht die zahllosen Verpflichtungen an den anderen Tagen dafür verantwortlich, dass Sie diese Einladung absagen? Befürchten Sie, dass Sie zu müde sein werden?«
»Ich habe keine Verpflichtungen. Das weißt du ganz genau.« Mr. Norrell las weiter, bevor er nach einer Weile (offensichtlich zu seinem Buch) sagte: »Du bist noch immer da.«
»Ja«, sagte Childermass.
»Nun denn«, sagte Mr. Norrell, »was ist los? Was willst du noch?«
»Ich glaubte, Sie wären nach London gekommen, um den Leuten zu zeigen, wie ein moderner Zauberer aussieht. Das wird sich hinziehen, wenn Sie die ganze Zeit zu Hause bleiben.«
Mr. Norrell schwieg. Er griff nach dem Brief und betrachtete ihn. »Drawlight«, sagte er schließlich. »Was meint sie damit? Ich kenne niemanden dieses Namens.«
»Ich weiß nicht, was sie meint«, sagte Childermass, »aber eins weiß ich: Im Augenblick ist es nicht angebracht, allzu wählerisch zu sein.«
Um acht Uhr am Abend von Mrs. Godesdones Party saß Mr. Norrell in seinem besten grauen Rock in seiner Kutsche und dachte an Mrs. Godesdones lieben Freund Drawlight, als ihm langsam bewusst wurde, dass die Kutsche still stand. Er blickte aus dem Fenster und sah ein großes, von Lampen erhelltes Chaos aus Menschen, Kutschen und Pferden. In dem Glauben, dass alle anderen die Londoner Straßen ebenso verwirrend fanden wie er, nahm er natürlich an, dass sein Kutscher und sein Diener sich verirrt hätten, klopfte mit dem Stock gegen die Decke der Kutsche und rief: »Davey! Lucas! Habt ihr mich nicht gehört? Manchester Street. Warum habt ihr euch nicht nach dem Weg erkundigt, bevor wir losgefahren sind?«
Lucas auf dem Kutschbock erwiderte, dass sie bereits in der Manchester Street seien, aber warten müssten, bis sie an die Reihe kämen – eine lange Kolonne von Kutschen stünde vor besagtem Haus.
»Vor welchem Haus?«, rief Mr. Norrell.
»Vor dem Haus, zu dem Sie wollten«, sagte Lucas.
»Nein, nein! Ihr täuscht euch. Es soll eine kleine Party sein.«
Aber kaum hatte Mr. Norrell Mrs. Godesdones Haus betreten, fand er sich zwischen ungefähr hundert von Mrs. Godesdones engsten Freunden wieder. Die Eingangshalle und die Empfangsräume waren überfüllt mit Menschen, und es kamen immer noch mehr. Mr. Norrell war überaus verblüfft, aber worüber staunte er eigentlich? Es war eine elegante Londoner Party, nicht anders als die anderen, die jeden Tag der Woche in einem halben Dutzend Häuser der Stadt veranstaltet wurden.
Wie soll man eine Londoner Party beschreiben? Überall im Haus brennen in Lüstern aus geschliffenem Glas Kerzen in blendender Fülle; elegante Spiegel verdrei- und vervierfachen das Licht, bis die Nacht heller strahlt
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