Jonathan Strange & Mr. Norrell
einem besonders düsteren Tag, als ein kalter grauer Regen auf die schmutzigen Straßen fiel und Pfützen im Schlamm bildete, fuhr eine Kutsche die Eider Street entlang und hielt vor einem schmalen hohen Haus. Der Kutscher und der Lakai, die zu dieser Kutsche gehörten, trugen tiefschwarze Trauerkleidung. Der Diener sprang vom Bock, spannte einen schwarzen Regenschirm auf und hielt ihn hoch, als er die Tür öffnete, damit Jonathan Strange aussteigen konnte.
Strange blieb einen Augenblick stehen, um sich die schwarzen Handschuhe zurechtzuziehen und sich auf der Eider Street umzusehen. Abgesehen von zwei Straßenkötern, die emsig einen Abfallhaufen durchstöberten, war die Straße verlassen. Aber er schaute sich weiterhin um, bis sein Blick an einer Tür auf der gegenüberliegenden Straßenseite hängen blieb.
Es war eine völlig unauffällige Tür – der Eingang zum Lagerhaus eines Händlers. Drei abgetretene Steinstufen führten hinauf zu einer massiven schwarzen Tür von ehrwürdiger Bauweise, überragt von einem großen hervorstehenden Giebel. Die Tür war beklebt mit zerrissenen Theaterplakaten und Ankündigungen, die den Leser davon in Kenntnis setzten, dass am soundsovielten in dieser oder jener Schänke der gesamte Besitz von Mr. So-und-so Esq. (zahlungsunfähig) zum Verkauf stand.
»George«, sagte Strange zu dem Lakaien, der den Schirm hielt, »zeichnest du?«
»Ich bitte um Entschuldigung, Sir?«
»Hast du jemals zeichnen gelernt? Verstehst du die dazugehörigen Prinzipien? Vordergrund, Hintergrund, Perspektive, diese Dinge?«
»Ich, Sir? Nein, Sir.«
»Schade. Es war Teil meiner Ausbildung. Ich könnte dir eine Landschaft oder ein Porträt zeichnen, das sehr gekonnt und sehr uninteressant wäre. Genau wie die Werke aller anderen gut ausgebildeten Amateure . Deine verstorbene Herrin kam nicht in den Genuss kostspieliger Zeichenlehrer, wie ich sie hatte, aber ich glaube, sie besaß mehr Talent. Ihre Aquarelle von Leuten und Kindern würden einen neumodischen Zeichenlehrer entsetzen. Er fände die Figuren zu steif und die Farben zu bunt. Aber Mrs. Strange hatte eine Begabung, den Ausdruck sowohl des Gesichts als auch der Figur einzufangen und in den gewöhnlichsten Szenen Charme und Witz zu entdecken. Ihre Bilder haben etwas sehr Lebendiges und Hübsches, das...« Strange hielt inne und schwieg einen Augenblick. »Worüber sprach ich? Ach ja. Zeichnen lehrt dich, immer genau hinzuschauen, und diese Gewohnheit wird sich stets als nützlich erweisen. Nehmen wir zum Beispiel diese Tür.«
Der Lakai blickte zu der Tür hinüber.
»Heute ist es kalt, düster, regnerisch. Es gibt kaum Licht und daher keine Schatten. Man sollte erwarten, dass der Eingang dort düster und dämmrig wäre; diesen Schatten dort würde man nicht erwarten – ich meine, den deutlichen Schatten, der von links nach rechts fällt und die linke Seite des Eingangs in absolute Schwärze taucht. Und ich glaube, ich habe Recht, wenn ich behaupte, dass der Schatten von rechts nach links fallen müsste, wenn es heute sonnig und hell wäre. Nein, dieser Schatten gehört dort nicht hin. So etwas kommt in der Natur nicht vor.«
Der Lakai blickte Hilfe suchend zum Kutscher, aber der Kutscher war entschlossen, sich nicht in das Gespräch ziehen zu lassen, und starrte in die Ferne. »Ich verstehe, Sir«, sagte der Lakai.
Strange blickte weiterhin mit nachdenklichem Interesse auf die Tür. Dann rief er: »Childermass! Bist du das?«
Einen Augenblick lang geschah nichts, und dann bewegte sich der dunkle Schatten, gegen den Strange so heftige Einwände erhoben hatte. Er löste sich von der Tür wie ein nasses Laken, das von einem Bett gezogen wird, dabei veränderte er sich, schrumpfte und wurde zu einem Mann: John Childermass.
Childermass lächelte sein schiefes Lächeln. »Nun, Sir, ich konnte nicht erwarten, Ihnen lange verborgen zu bleiben.«
Strange schnüffelte. »Ich erwarte dich seit einer Woche oder länger. Wo warst du?«
»Mein Herr hat mich erst gestern zu Ihnen geschickt.«
»Und wie geht es deinem Herrn?«
»Oh, schlecht, Sir, sehr schlecht. Er hat einen Schnupfen und Kopfweh und Gliederzittern. Die üblichen Symptome, wenn ihn jemand geärgert hat. Und niemand ärgert ihn so sehr wie Sie.«
»Freut mich, zu hören.«
»Übrigens, Sir, ich wollte Ihnen noch etwas sagen. Ich bewahre Geld für Sie am Hanover Square auf. Ihr Honorar vom Schatzamt und der Admiralität für das letzte Quartal 1814.«
Strange riss überrascht
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