Jonathan Strange & Mr. Norrell
Franzosen Schützlinge eines der beiden Zauberer Englands waren. »Und«, hatte Strange Jeremy angewiesen und den Finger gehoben, »wenn sie behaupten, dass Norrell der Größere der beiden ist, dann lass es ihnen durchgehen, aber erkläre ihnen, dass ich schneller wütend werde und empfindlicher auf Beleidigungen meiner Freunde reagiere.« Monsieur Minervois und Monsieur Forcalquier waren Strange für seine Mühe dankbar, aber unter so bedrückenden Umständen hatten sie den Branntwein als ihren besten Freund erkannt und sprachen ihm mit strikter Regelmäßigkeit während des ganzen Tages zu.
Sie verließen das Haus in der Eider Street nicht mehr. Die Fensterläden blieben Tag und Nacht gegen die Ungastlichkeit von Spitalfields geschlossen. Sie lebten und arbeiteten bei Kerzenlicht und hatten längst alle Beziehungen zu Uhren abgebrochen. Sie waren überrascht, Strange und Childermass zu sehen, da sie meinten, es wäre mitten in der Nacht. Sie hatten einen Dienstboten – das winzige, großäugige Waisenmädchen –, das sie nicht verstand, große Angst vor ihnen hatte und deren Namen sie nicht kannten. Aber auf unbekümmerte, großzügige Art waren die zwei Männer freundlich zu ihr und hatten ihr ein kleines Zimmer für sich allein gegeben, mit einem Federbett und Laken aus Leinen, so dass sie das düstere Haus als Paradies empfand. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, sie mit Lebensmitteln, Branntwein und Opium zu versorgen, alles Dinge, die sie mit ihr teilten, wobei sie den Branntwein und das Opium für sich behielten, ihr aber die meisten Lebensmittel überließen. Zudem holte und erhitzte sie Wasser, damit sie sich baden und rasieren konnten, denn beide Herren waren ziemlich eitel. Dem Schmutz und der Unordnung im Haus standen sie vollkommen gleichgültig gegenüber, was der kleinen Waisen nur recht war, denn sie verstand so viel von Haushaltsführung wie von Althebräisch.
Blätter dicken Papiers und tintenfleckige Lumpen lagen überall herum. Zinnschalen mit uralten Käserinden standen da und Töpfe mit Schreibfedern und Stücken von Holzkohle. Ein ältlicher Sellerieknollen hatte eine zu lange Zeit in zu enger Nachbarschaft mit der Holzkohle verbracht, was ihm nicht gut bekommen war. An der Vertäfelung der Wände und auf die schmutzige dunkle Tapete waren mit Nadeln Stiche und Zeichnungen gesteckt – auch eine Zeichnung von Strange, die besonders gut war.
Hinter dem Haus befand sich ein verwahrloster kleiner Garten mit einem Apfelbaum, der einst ein Baum auf dem Land gewesen war – bis das graue London sich ausgebreitet und seine hübschen grünen Nachbarn gefressen hatte. Eine unbekannte Person hatte irgendwann einmal in einem Anfall von Fleiß alle Äpfel vom Baum gepflückt und sie auf die Fensterbretter gelegt, wo sie jetzt seit Jahren ruhten. Zuerst waren daraus alte Äpfel geworden, dann aufgedunsene Leichen von Äpfeln und schließlich Geister von Äpfeln. Im Haus herrschte ein ganz entschiedener Geruch – zusammengesetzt aus Tinte, Papier, Kohlen, Branntwein, Opium, verfaulenden Äpfeln, Kerzen, Kaffee –, vermischt mit dem ganz eigenen Duft von zwei Männern, die Tag und Nacht auf beschränktem Raum arbeiteten und nie, unter keinen Umständen, veranlasst werden konnten, ein Fenster zu öffnen.
Ja, Minervois und Forcalquier vergaßen oft, dass es auf der Erde Orte wie Spitalfields oder Frankreich gab. Sie lebten tagelang ausschließlich in der kleinen Welt der Stiche für Stranges Buch – und das waren in der Tat höchst merkwürdige Bilder.
Große Korridore waren darauf abgebildet, die vor allem aus Schatten bestanden. Dunkle Öffnungen in den Mauern deuteten auf weitere Korridore, so dass die Stiche das Innere eines Labyrinths darzustellen schienen. Auf anderen waren breite Treppen zu sehen, die zu dunklen unterirdischen Kanälen führten. Da waren Abbildungen eines riesigen düsteren Moors, durch das sich eine einsame Straße wand. Der Betrachter schien aus großer Höhe auf diese Landschaft hinunterzublicken. Weit, weit entfernt auf der Straße war ein Schatten zu sehen – nichts weiter als ein Kratzer auf der hellen Fläche der Straße –, zu weit entfernt, um bestimmen zu können, ob es ein Mann, eine Frau, ein Kind oder überhaupt ein menschliches Wesen war, aber in der menschenleeren Landschaft war es eine beunruhigende Erscheinung.
Auf einem Bild spannte sich eine einsame Brücke über eine immense neblige Leere – vielleicht der Himmel selbst; die Brücke bestand aus den
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