Jonathan Strange & Mr. Norrell
Paul, der einen Augenblick lang die lebende Verkörperung des Raben-im-Flug war; das große schwarze Bett in Wansford. Andere Dinge hatte er noch nie zuvor gesehen: einen Weißdornbaum; einen in einem Dickicht gekreuzigten Mann; einen groben Steinwall in einem engen Tal; ein unverschlossenes Fläschchen, das auf einer Welle trieb.
Dann verschwanden alle Visionen außer einer. Sie füllte eins der großen Fenster in der Bibliothek, aber was sie darstellte, verstand Mr. Norrell nicht. Sie ähnelte einem großen, vollkommen runden schwarzen Stein von nahezu unmöglichem Glanz und Schimmer, gesetzt in einen dünnen Ring aus rauen Steinen. Er schien auf etwas zu liegen, was einem schwarzen Hügel ähnelte. Mr. Norrell hielt es für einen Hügel, weil es einem Moor ähnelte, in dem alles Heidekraut verbrannt und verkohlt ist – nur dass dieser Hügel nicht schwarz wie etwas Verbranntes war, sondern schwarz wie nasse Seide oder poliertes Leder. Plötzlich tat der Stein etwas – er bewegte oder drehte sich. Die Bewegung vollzog sich so schnell, dass Mr. Norrell sie kaum registrierte und das unheimliche Gefühl hatte, der Stein hätte geblinzelt.
Der Wind erstarb. Die Glocke über den Ställen hörte auf zu läuten.
Mr. Norrell seufzte erleichtert auf, weil es vorbei war. Strange stand mit verschränkten Armen da und starrte nachdenklich auf den Boden.
»Was halten Sie davon?«, fragte Mr. Norrell. »Die letzte Vision war bei weitem die schlimmste. Einen Moment lang habe ich geglaubt, es wäre ein Auge.«
»Es war ein Auge«, sagte Strange.
»Aber wozu konnte es gehören? Zu einem Schreckgespenst oder Ungeheuer vermutlich. Höchst beunruhigend!«
»Es war ungeheuerlich«, sagte Strange. »Aber nicht auf die Art, wie Sie glauben. Es war das Auge eines Raben.«
»Das Auge eines Raben! Aber es hat das ganze Fenster ausgefüllt.«
»Ja. Entweder war der Rabe ungeheuer groß oder...«
»Oder?«, fragte Mr. Norrell mit zitternder Stimme.
Strange lachte kurz und bitter auf. »Oder wir waren lächerlich klein. Angenehm, nicht wahr, sich selbst so zu sehen, wie andere einen sehen? Ich wünschte, dass John Uskglass mich anschaut, und ich glaube, einen Augenblick lang hat er es getan. Oder zumindest einer seiner Statthalter. Und in diesem Moment waren Sie und ich kleiner als das Auge eines Raben und vermutlich ebenso unbedeutend. Apropos, John Uskglass, ich nehme an, wir wissen nicht, wo er sich aufhält?«
Mr. Norrell setzte sich vor die Silberschale und begann zu zaubern. Nach fünf Minuten geduldiger Arbeit sagte er: »Mr. Strange! Ich finde kein Zeichen von John Uskglass – überhaupt nichts. Aber ich habe auch nach Lady Pole und Mrs. Strange geschaut. Lady Pole ist in Yorkshire und Mrs. Strange ist in Italien. Im Elfenland findet sich kein Schatten ihrer Anwesenheit. Beide sind vollkommen entzaubert.«
Schweigen. Strange wandte sich abrupt ab.
»Es ist schon sehr seltsam«, fuhr Mr. Norrell verwundert fort. »Wir haben alles geschafft, was wir tun wollten, aber ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, wie wir es getan haben. Ich kann nur vermuten, dass John Uskglass einfach gesehen hat, was nicht stimmte, die Hand ausstreckte und es richtete. Bedauerlicherweise ist er uns nicht so weit entgegengekommen, um uns von der Dunkelheit zu befreien. Die ist noch da.«
Mr. Norrell schwieg. Das also war sein Schicksal! Ein Schicksal voller Angst, Schrecken und Einsamkeit. Er saß geduldig eine Weile da und wartete darauf, dass er einem oder allen dieser fürchterlichen Gefühle zum Opfer fiele, musste jedoch zugeben, dass er keines davon empfand. Jetzt schien es ihm eher bemerkenswert, dass er die langen Jahre weit weg von seiner Bibliothek in London verbracht hatte, wo er nach der Pfeife der Minister und Admiräle hatte tanzen müssen. Er fragte sich, wie er das ertragen hatte.
»Ich bin froh, dass ich das Rabenauge nicht als solches erkannt habe«, sagte er gut gelaunt, »sonst hätte ich mich schrecklich gefürchtet.«
»So ist es, Sir«, sagte Strange heiser. »Da haben Sie Glück gehabt. Und ich glaube, ich bin von dem Wunsch geheilt, angeschaut zu werden. Von nun an mag John Uskglass mich ignorieren, solange er will.«
»Genau!«, pflichtete Mr. Norrell ihm bei. »Wissen Sie, Mr. Strange, Sie sollten wirklich die Gewohnheit ablegen, sich etwas zu wünschen. Das ist gefährlich für einen Zauberer.« Er begann eine lange, nicht besonders interessante Geschichte über einen Zauberer des vierzehnten Jahrhunderts in
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