Jonathan Strange & Mr. Norrell
ihm, als wäre die Landschaft nicht mehr so englisch, wie sie eben noch gewesen war. Die Bäume, die ihn jetzt umgaben, waren riesig und uralt, ihre Äste doppelt so dick wie ein menschlicher Körper und zu seltsamen phantastischen Formen gebogen. Obschon es Winter war, blühten hier und da ein paar Rosen, blutrot und schneeweiß.
England lag hinter ihm. Er bedauerte es nicht. Er blickte nicht zurück. Er ging weiter.
Er kam zu einem langen niedrigen Hügel, und in der Mitte des Hügels befand sich eine Öffnung. Sie ähnelte mehr einem Mund als einer Tür, aber sie wirkte nicht bösartig. Jemand stand da, in der Öffnung, und wartete auf ihn. »Ich kenne diesen Ort«, dachte er. »Es ist Verlorene Hoffnung. Aber wie kann das sein?«
Nicht nur war das Haus zu einem Hügel geworden, alles wirkte, als hätte es sich einer Revolution unterzogen. Der Wald war plötzlich frisch und unschuldig. Die Bäume bedrohten die Reisenden nicht mehr. Zwischen den Ästen schimmerte ein heiterer Winterhimmel im kältesten Blau. Hier und dort erstrahlte das klare Licht eines Sterns, aber ob es Morgensterne oder Abendsterne waren, wusste er nicht mehr. Er schaute sich nach den alten Knochen und rostigen Rüstungen um – die grässlichen Embleme der blutrünstigen Natur des Herrn. Zu seiner Überraschung sah er sie überall – unter seinen Füßen, in Mulden unter den Baumwurzeln, verheddert in den Sträuchern und im dornigen Gestrüpp. Aber sie waren viel zerfallener, als er sich erinnerte; sie waren von Moos bedeckt, vom Rost zerfressen und zerfielen zu Staub. Bald würde nichts mehr davon übrig sein.
Die Gestalt in der Öffnung kam ihm bekannt vor; er hatte oft an den Bällen und Umzügen in Verlorene Hoffnung teilgenommen. Aber auch er war verändert; seine Gesichtszüge waren elfischer; seine Augen funkelten stärker; seine Brauen waren extravaganter. Sein Haar war dicht gelockt wie das Flies junger Lämmer oder junge Farnblätter im Frühling, und sein Gesicht war mit einem dünnen Flaum bedeckt. Er sah älter aus, doch gleichzeitig auch unschuldiger. »Willkommen!«, rief er.
»Ist das wirklich Verlorene Hoffnung?«, fragte die Person, die einst Stephen Black gewesen war.
»Ja, Großvater.«
»Aber ich verstehe es nicht. Verlorene Hoffnung war ein großes Haus. Das ist...« Die Person, die einst Stephen Black gewesen war, hielt inne. »Ich weiß kein Wort dafür.«
»Das ist ein Brugh , Großvater. Das ist die Welt unter dem Hügel. Verlorene Hoffnung verändert sich. Der alte König ist tot. Der neue König kommt. Und während er sich nähert, wirft die Welt allen Kummer ab. Die Sünden des alten Königs lösen sich auf wie Dunst am Morgen. Die Welt nimmt den Charakter des neuen an. Seine Tugenden erfüllen den Wald und die Welt.«
»Der neue König?« Die Person, die einst Stephen Black gewesen war, blickte auf ihre Hände. In der einen hielt sie das Zepter, in der anderen den Reichsapfel.
Der Elf lächelte ihn an, als wunderte er sich, warum der neue König überrascht war. »Die Veränderungen, die Sie hier bewirkt haben, übertreffen alles, was Sie in England taten.«
Sie traten durch die Öffnung in einen großen Saal. Der neue König setzte sich auf den alten Thron. Viele Leute kamen und scharten sich um ihn. Manche Gesichter kannte er, andere nicht, aber vermutlich lag das daran, dass er früher nicht gesehen hatte, wie sie wirklich waren. Lange Zeit schwieg er.
»Dieses Haus«, sagte er schließlich, »ist in Unordnung und schmutzig. Seine Bewohner haben ihre Tage mit sinnlosen Vergnügen und Feierlichkeiten zu Ehren vergangener Grausamkeiten verbracht – Dinge, die man nicht erinnern, geschweige denn feiern sollte. Das habe ich oft gesehen und oft bedauert. Alle diese Fehler werde ich zu gegebener Zeit richten.« 180
Kaum begann der Zauber zu wirken, blies ein heftiger Wind durch Hurtfew. Türen schlugen in der Dunkelheit zu; in schwarzen Räumen bauschten sich schwarze Vorhänge; von schwarzen Tischen schwebten schwarze Papiere und tanzten. Eine Glocke aus der ursprünglichen Abtei und längst vergessen – läutete hektisch in einem kleinen Turm über den Ställen.
In der Bibliothek tauchten Visionen in Spiegeln und im Glas der Standuhren auf. Sie folgten rasch aufeinander, fast zu schnell, um sie richtig begreifen zu können. Manche Bilder, die Mr. Norrell sah, waren ihm vertraut: der gebrochene Stechpalmenzweig in seiner Bibliothek am Hanover Square; ein fliegender Rabe vor der Kathedrale von St.
Weitere Kostenlose Bücher