Jones, Diana Wynne
Spiel treibt ihr hier eigentlich?«
»Kein Spiel«, sagte ich. »Der König muss in diesem Mantel heiraten, und ich hole ihn nur für ihn.«
»Du lügst!«, entgegnete Jay. »Du verlogene Heidin! Den König kannst du vielleicht hintergehen, aber mich täuschst du schon lange nicht mehr. Gib mir den Mantel. Und deine goldene Statue auch, wo du schon dabei bist!« Ich weiß nicht, woher Jay wusste, dass ich den Einen vorn in meinem Hemd bei mir trug. Er musste mich seit Tagen beobachtet haben.
»In den Strom«, rief Tanamil mir vom Ufer zu. Ich blickte ihn an und sah, dass er seine Flöten zwischen den Lippen hatte. Ich versuchte seitwärts vom Boot zu springen. Jays Hand schloss sich um den Zaubermantel und riss mich zurück.
»Nein, das lässt du schön bleiben!«, sagte er. »Du kommst mit zum König.«
Mir war es egal, dass Jay nur einen Arm hat. Ich biss ihm in die Hand und warf mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn, wie Tanamil es mir beigebracht hat. Mit einer großen Fontäne fielen wir beide ins Wasser. Es war bitterkalt. Jay heulte auf und schlug um sich. Ich hatte nicht gewusst, dass er nicht schwimmen konnte.
»Entchen!«, rief ich. »Du musst Jay retten!«
In diesem Augenblick erklangen Tanamils Flöten. Ich hörte einen Schrei tief aus der Brust wie von einer Seemöwe und einen Klagelaut, als jammere eine alte Frau auf einem Begräbnis. Mir war, als hätte man mich aus meinem Kopf herausgeholt und irgendwo hineingesteckt, wo es seltsam und schrecklich war. Ich sah einen lang gezogenen Lichtblitz, und in diesem Blitz verschob sich alles sanft. Plötzlich standen Tanamil und ich am See, wie zuvor von Bergen umgeben, doch war es still und leer, und eine fahle Blässe überdeckte alles. An den Bäumen waren keine Boote festgemacht, und die Bäume schienen wie in Nebel getaucht. Dennoch hörte ich deutlich ein lautes Platschen und ein dröhnendes Tröpfeln. Aus dem Nichts rief Entchen: »Du bist in Sicherheit, du Narr! Komm, heb das Bein über die Seite. Und wenn Tanaqui dich gebissen hat, dann bist du selber dran schuld.«
»Autsch! Au!«, hörte ich Jay.
»Was soll ich nun tun?«, fragte ich Tanamil.
»Wenn du so weit bist, musst du tiefer hinab«, sagte Tanamil. »Du musst gegen die Strömung zur Quelle vordringen.«
»Kommst du denn nicht mit?«, fragte ich.
Tanamil schüttelte den Kopf. Er hatte eine völlig ausdruckslose Miene aufgesetzt. »Ich kann nicht weiter, denn ich bin gebunden«, erklärte er. »Außerdem könnte ich dir nicht helfen, wenn du zur Quelle gelangst. Nur jemand aus dem Volk deines Vaters kann uns entbinden. Ich muss gehen und Kankredin suchen. Deine Mutter hatte völlig Recht.«
»Oh«, sagte ich. Ich war sehr enttäuscht von ihm und argwöhnte, dass er zu Robin zurückwollte.
5.
Tanamil spielte wieder auf seinen Flöten. Das Lied begann als Kreischen, ging jedoch in einen dahineilenden, schluchzenden Laut über und verklang. Wieder sah ich den Lichtblitz und fühlte mich verschoben. Diesmal erkannte ich, was es war: Es war, als blickte ich bei Nacht in die Fluten, ohne zu wissen, dass der Strom schon so hoch stand: Lange hielt das Gefühl nicht an.
Als ich die Dinge wieder so sah, wie sie wirklich waren, befand ich mich zwischen hohen, überschattenden Ufern im Bett des Stroms, und eine ganz andere Flut umgab mich: Sie bestand aus Leuten. Als schemenhafte Menge hasteten Menschen an mir vorbei. Es wurden immer mehr, und sie kamen stets von links und eilten nach rechts. Ihr Fußgetrappel kitzelte mir in den Ohren. Das Getrappel hörte zwar nie auf, aber trotzdem war es eigenartig schwer zu hören. Die Menschen blieben auch nie stehen, und sie waren nur schwer zu erkennen. Erst wenn ich eine bestimmte Person anblickte und den Kopf drehte, um ihr mit den Augen zu folgen, während sie vorbeihastete, konnte ich sie deutlich sehen. Auf diese Weise entdeckte ich vier Männer aus meinem Volk, eine Heidin, zwei Heidenjungen und ein Mädchen ungefähr in Robins Alter, das weder eine Heidin war noch zu unserem Volk gehörte. Sie alle waren Fremde für mich. Und alle eilten sie zwischen den Schatten werfenden Ufern in eine Richtung, ein endloser Strom von Leuten.
»Gulls hastende Menschen!«, hörte ich mich sagen. »Es waren die Seelen von Toten. Jetzt begreife ich. Der Strom ist jeder, der stirbt.«
So zu sprechen beanspruchte sehr viel von meiner Aufmerksamkeit. Als Nächstes bemerkte ich, dass ich mich der Menge angeschlossen hatte. Ich keuchte vor Eile und hastete immer
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