Jones, Diana Wynne
wirklich nur ganz leise. Maewen war überrascht, dass sie keine große Angst empfand.
»Der Wanderer ist kein Verlust«, sagte die tiefe Stimme. »Du hast ihn nie gebraucht.«
Maewen fuhr zusammen und erschauerte; sie fragte sich, ob sie – er – ihre Gedanken lesen könne. »Nein?«, entgegnete sie. »Da bin ich aber erleichtert!«
Sarkasmus schien von Kankredin stets abzugleiten – wenn es denn Kankredin war. Unbeirrbar fuhr die Stimme fort: »Halte von jetzt an nach einer Gelegenheit Ausschau, die Südländer zu erstechen. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, wird immer größer.«
»Ganz wie du meinst!«, erwiderte Maewen bitter. Sie war sehr erleichtert, als sie beim Abendessen hörte, wie Navis sich mit Mitt absprach, während der Nacht abwechselnd Wache zu stehen. Im Grunde waren ihre Verfolger ein verkappter Segen. Kankredin konnte nicht von ihr erwarten, dass sie schon heute Nacht einen Mordanschlag unternahm. Sie fürchtete sich aber sehr davor, was passieren würde, wenn er herausfand, dass sie überhaupt nicht beabsichtigte, sein Ansinnen zu erfüllen.
Am nächsten Tag setzten sie ihren Weg durch ein unverändert welliges Land fort. Mitt gähnte ständig, und Navis hatte blutunterlaufene Augen. Maewen taten sie beide Leid, bis Mitt sagte: »Ich bin so etwas gewöhnt, und Navis wird nur noch aufmerksamer, wenn er müde ist. Weißt du, ich habe erlebt, wie er ohne mit der Wimper zu zucken vier Nächte hintereinander nicht geschlafen hat.«
Dass Mitt Recht hatte, wurde ihr bald klar, denn Navis entdeckte undeutliche Spuren, wo die Hannarter Gefolgsleute die Grüne Straße auf der linken Seite verlassen hatten, um einem unbenutzt wirkenden Feldweg zu folgen, der ins Gebirge führte. Navis stürzte sich wie eine Katze darauf. »Wohin führt dieser Weg?«, fragte er Hestefan und Moril.
»Das ist eine Abkürzung in die Nordtäler«, sagte Moril.
Aus schmalen Augen musterte Navis den Pfad und hob den Blick zu den Bergen. Sie waren schon näher gekommen. Direkt vor ihnen bogen sie sich einwärts und schienen sich über die Grünen Straße zu recken. »Und kommt man zu Pferd durch die Bergspitzen und gelangt wieder auf die Straße zurück?«, fragte er.
»Gut möglich«, antwortete Hestefan. »Aber der Fluss fällt dort nach Wassersturz hinab.« Er deutete auf die zerklüfteten Anhöhen vor ihnen. »Wir brauchen nur ins Tal zu ziehen und sind in Sicherheit.«
»Wenn sie uns nicht vorher den Weg abschneiden«, entgegnete Navis.
Von dieser Stelle an ritt er mit schussbereiter Pistole in der Hand. Als sie gegen Mittag die Felsspitzen erreichten und die Straße sich zwischen ihnen hindurchzuwinden begann, zuckte Navis’ Blick immer wieder nach oben und suchte nach einem Hinterhalt. Hauptsächlich beobachtete er die linke Seite. Wenn er jedoch in den Felsen über dem Fluss Wassersturz eine heidekrautbewachsene Senke entdeckte, so musterte er auch sie ganz genau.
Eine halbe Meile später breitete sich der Fluss plötzlich noch weiter aus und wurde zu einer gewaltigen, flachen Masse rasch dahineilenden Wassers. Wie vom Rand der Welt schien es sich in eine undeutliche blaue Tiefe zu stürzen. Weil sich die Straße wand, konnten sie sehen, wie es fiel und fiel und immerfort fiel; fast eine Meile tief stürzte das weiß schäumende Wasser hinab, in dunstige Regenbögen und feuchten Donner gehüllt, bei dem man kaum sein eigenes Wort verstand.
»Das ist schon etwas, wie?«, schrie Moril.
Als Maewen sich umdrehte, um ihm brüllend zu antworten, entdeckte sie einen Trupp Bewaffneter, der von hinten die Straße entlang auf sie zueilte. Ihre Hände zuckten zum Schwert des Adons, das quer vor ihr auf dem Sattel lag, dann gab sie auf. Navis hatte sich mit schussbereiter Pistole herumgeschwungen. Maewen sah, wie er die Waffe wieder senkte. Die Bewaffneten waren so zahlreich, und alle trugen sie eine dunkelrot-blaue Montur, bis auf den Mann an der Spitze, der ihnen zuzuwinken schien; Maewen war sich sicher, dass sie diese Farben schon einmal gesehen hatte – oh!, dachte sie und blickte an sich herunter. An ihre Sachen hatte sie sich so sehr gewöhnt, dass sie für sie nichts weiter als Kleidung waren, aber sie trug das gleiche Dunkelrot und Blau wie die Bewaffneten. Der Mann an der Spitze war in kostbare scharlachrote Seide und rotes Leder gekleidet, und er winkte ihr eindeutig zu.
Maewen ließ sich aus dem Sattel gleiten. Das ist wie in Kredinstal, nur schlimmer, dachte sie, während sie ihm widerstrebend
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