Jones, Diana Wynne
Mitte hatte. Ein Wegstein? Er war nur etwa ein Zehntel so groß wie der draußen vor dem Bahnhof in Karnsburg, aber sie glaubte, dass sie trotzdem richtig vermutete. In ihren knappen Sommersachen begann sie zu schaudern und blickte den Stein missmutig an. Der ist echt!, dachte sie. Wend hat mich reingelegt! Ich stehe unter Schock! Ich werde an Unterkühlung sterben, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo ich hier bin. Oder – wann!
Nun bemerkte sie, dass sie das Prickeln der Nadelspitzen nicht mehr spürte. Ein viel besseres Gefühl hatte es verdrängt – und zwar schon vor einigen Sekunden, wenn sie es sich recht überlegte –, ein Gefühl, dass alles in Ordnung kommen werde. Na, das will ich doch sehr hoffen!, dachte sie. Ich könnte schreien, aber hier ist ja niemand, der mich hören würde.
Ihr wurde allmählich spürbar wärmer.
Sie blickte gerade noch rechtzeitig zu Boden, um zu sehen, wie ihre Sandalen sich schlossen und ihr die Beine hinaufwuchsen, bis sie derbe Stiefel trug. Ihre Shorts wuchsen nach unten und wurden zu einer filzigen, bauschigen Hose, deren Beine in den Stiefeln verschwanden. Ein leises Klirren machte sie darauf aufmerksam, dass auch ihr T-Shirt größer wurde und sich in ein Kettenhemd mit einem dünnen Wams darunter und einem dickeren darüber verwandelte. Ein schweres Gewicht drückte ihr auf den Kopf. Sie hob die Hand und ertastete Metall. Sie trug nun einen leichten, gewölbten Helm.
Maewen erfüllte ein irres, ausgelassenes Vergnügen. Ich bin eine Kriegsmaid!, dachte sie. Ich verwandle mich vor meinen eigenen Augen in eine Kriegerin – zumindest soweit ich mich sehen kann! Ihre Füße in den Stiefeln waren noch immer eiskalt, ihre Hände nicht wärmer, und doch hatte sie das Gefühl, umsorgt zu werden. Jemand – die goldene Figur vielleicht? – kümmerte sich um sie.
Rechts klirrte es ebenfalls. Maewen fuhr wie ein wildes Tier herum. Ein Schnauben überdeckte das Klirren, ein Laut, den Maewen sehr gut kannte. Vorsichtig bewegte sie sich zur Seite und klirrte dabei selber. Tatsächlich, dort vor dem rosa Streifen Dämmerlicht hob sich ein Pferd ab. Es stand geduldig auf der Stelle und wartete auf jemanden. Es war kein schlechtes Pferd, wenngleich es ziemlich zottig war, soweit Maewen sehen konnte, und es war gesattelt und aufgezäumt. Hinter dem Sattel lag eine Gepäckrolle. Das Pferd wandte sich um und blies Maewen dampfenden Atem entgegen, als kenne es sie.
Maewen war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie die Pferde vermisst hatte. Fast ohne nachzudenken nahm sie das Tier beim Zügel, stellte den Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Autsch! Geht das schwer! Das Kettenhemd und die Stiefel wogen wirklich einiges. Erst als sie sich schon in den Sattel gezogen hatte, kam ihr der Gedanke, dass dieses Pferd doch jemandem gehören musste. Welche Strafe stand auf Pferdediebstahl? Na gut, dachte sie, ich kann immer noch sagen, dass ich in dem dichten Nebel gedacht hätte, es wäre mein eigenes. Würde man ihr das abnehmen? Sie fühlte sich auf dem Pferderücken sehr wohl, dass ihr das schon fast gleichgültig war. Mit dem Eigentümer würde sie sich befassen, wenn sie ihm begegnete. Sie lenkte das Pferd um den kleinen Wegstein herum und versuchte zu sehen, wo sie eigentlich war.
Der Nebel lichtete sich allmählich und sank in ein Tal, das unterhalb des Steines lag, mehr aber konnte Maewen noch immer nicht sehen. »Hallo?«, fragte sie unsicher.
»Oh… Verzeih, Herrin. Ich habe dich nicht kommen gehört.«
Maewen zog die Schultern ein, wieder von äußerster Wachsamkeit erfüllt. Ein großer Mann erhob sich von der Stelle, wo er auf der anderen Seite des Wegsteins gesessen hatte, und verbeugte sich höflich und eilfertig vor ihr. Als sie sich aufrichtete, sah sie, dass es Wend war. Sie wurde noch vorsichtiger als zuvor. Sein Haar war viel länger und zu welligen weißlichen Löckchen ausgewachsen, die nicht allzu gut gekämmt waren. Sein Gesicht wirkte dadurch ein wenig anders, und statt der adretten Uniform, die er noch vor einigen Minuten getragen hatte, steckte er in ausgebeulter, geflickter Wollkleidung und einer alten Schaffelljacke – Sachen, wie sie vielleicht ein armer Schafhirte vor zweihundert Jahren getragen hatte. Maewen starrte Wend an und fragte sich, ob er sie wirklich in die Vergangenheit gesandt hatte. Und kennt er mich? Glaubt er wirklich, ich wäre Wiehießsienochgleich?
Wend erwiderte ihren Blick mit der gewohnten ernsten
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