Jones, Diana Wynne
Höflichkeit. »Ich bin Wend, Herrin«, sagte er. »Wenn du dich erinnerst, wir sind uns schon begegnet.« Also kennt er mich tatsächlich, dachte Maewen. »Und ich bin hier, um dir entlang der Straße des Königs von Wegstein zu Wegstein zu folgen, bis du Herns Stadt aus Gold erreichst und Anspruch auf die Krone erhebst, die dir zusteht.«
Er weist mich ein, dachte Maewen, und das muss er aber auch – er verleitet mich, so zu tun, als wäre ich diese Northeen, oder wie sie heißt! Dummerweise prickelte es ihr bei Wends Anblick noch immer am ganzen Leib vor Verlegenheit. Er sprach mit dem sehr starken nordländischen Akzent, gegen den Mutter und Tante Liss bei Maewen immer etwas einzuwenden hatten. Aus Wends Mund klang er ganz natürlich, aber sie hatte ihn erst vor einer Minute ganz normal sprechen gehört und wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr nur etwas vorspiele. Das machte sie ärgerlich. »Ein bisschen mehr müsste ich schon wissen«, fuhr sie ihn an.
Wend verbeugte sich demütig, aber damit machte er Maewen nur noch wütender. »Jawohl, Herrin. Dann will ich dir sagen, was sonst niemand weiß. Ich bin es, den man den Wanderer nennt, und ich hüte die Grünen Straßen …«
Er verstummte und blickte über seine Schulter. Etwas unterhalb, aber schon sehr nah, erklang das energische Klirren von Zaumzeug. Maewen duckte sich wieder wie ein wachsames wildes Tier und beobachtete zwei Reiter, die aus dem Nebel kamen und den Hang hinaufritten. Sie schienen den Nebel mit sich zu bringen, den Nebel ihres eigenen Atems, den Nebel des Atems ihrer Pferde, und füllten die Luft mit ihrer Gegenwart.
»Guten Morgen, Noreth«, sagte der kleinere von beiden. »Du warst ja sehr schnell fort. Wir hatten gehofft, wir könnten mit dir reiten.« Er saß auf einer wahrlich großartigen Stute. Seine Kleider ähnelten denen, die Maewen jüngst erhalten hatte, Kettenhemd und Helm und Stiefel, nur dass sie an diesem Mann sauberer und teurer aussahen. Maewen stellte entsetzt fest, dass sie sein Gesicht kannte. Sie hatte diese klar geschnittenen, rücksichtslosen Züge über eine gemalte Schulter blicken sehen: auf dem Gemälde des Herzogs von Karnsburg.
Ein Schlag durchfuhr sie, als hätte sie ein blankes Stromkabel berührt. Bis zu diesem Moment hatte Maewen eigentlich gar nicht daran geglaubt, dass sie um zweihundert Jahre in die Vergangenheit versetzt worden war. Doch hier sah sie einen Mann vor sich, der warm und lebendig dampfenden Atem aushauchte, obwohl sie von ihm wusste, dass er seit über einem Jahrhundert tot sein musste. Dadurch wurde es real. Dadurch wurde es viel furchteinflößender. Sie blickte angsterfüllt zu dem größeren Reiter und fragte sich, ob sie wohl auch ihn erkennen würde. Er war jung und schlaksig und machte unverkennbar Anstalten, noch größer zu werden. Seine Kleider, die recht hübsch waren, hingen an ihm, als wären es seine besten Sachen, während er gewöhnt war, etwas weitaus Schäbigeres zu tragen. Und sein Pferd sah aus wie ein Schurke.
Er war ihr völlig fremd, doch Maewens Erleichterung deswegen schlug in Bestürzung um, als der junge Mann sie anlächelte. Er lächelte so freundlich und fröhlich mit nur einer Spur von Schüchternheit, als kenne er sie sehr gut. Und sie hatte einfach nicht die leiseste Ahnung, wer er war. O großer Einer! , dachte sie. Warum hat Wend mich nicht vor diesen Leuten gewarnt?
Sie blickte Wend an, der gesenkten Hauptes am Wegstein wartete, doch sie musste wegschauen, als der Mann mit den klaren Gesichtszügen weitersprach. »Wie du siehst«, sagte er, »sind Mitt und ich gekommen, um auf der Straße des Königs deine Gefolgsleute zu sein.«
Maewen sah sich schon wieder in Verwirrung gestürzt. Er klang so sarkastisch. Genauso würde ein Mann wie er sprechen – und sie kam sich dabei vor, als wäre sie nicht älter als fünf. Doch das war noch nicht alles. Erneut kam ihr zu Bewusstsein, dass sie keinerlei Vorstellung besaß, wann sich all dies ereignete. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte sie angenommen, sie wäre irgendwo auf halber Strecke nach Karnsburg an die Stelle dieser Noreth versetzt worden. Den Worten dieses Mannes zufolge befand sie sich womöglich noch hoch im Norden, wo Noreths Reise begonnen hatte. Dadurch ereilte sie zusätzlich zu den übrigen Sorgen ein tiefes, quälendes Bangen. Unter anderem dachte sie: Wenn Kankredin Noreth schon so früh erwischt hat, wie bald wird er sich dann mir zuwenden? Ein unwichtigerer Gedanke, der ihr
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