Jones, Susanna
einen festen Orientierungspunkt gaben. Ihre Seminarnoten schossen steil in die Höhe. Es fiel ihr immer leichter und leichter, sich die Kanjis einzuprägen, und es wurde richtig unterhaltsam, sie schreiben zu üben. Nach drei Jahren und einer Menge Sex konnte sich Lucy kaum noch an die Namen ihrer sieben (sechs) Brüder erinnern und fühlte sich bereit für die Abschlussprüfung.
Sie meldete sich nicht bei Miriam. Sie entschied, dass sie nur etwas sagen würde, wenn Miriam als Erste anrief oder schrieb. Miriam tat's nicht. Und so kam es, dass keinerlei Erklärungen erforderlich waren, als Lucy aus ihrem gemütlichen Wohnheim auszog und nach Japan aufbrach.
Sie fand eine Wohnung und arbeitete bei mehreren Firmen, redigierte Texte, übersetzte Produktbeschreibungen und Bedienungsanleitungen. Zuletzt, vor vier Jahren, hatte sie ihre gegenwärtige Stellung angenommen. Sie wurde Übersetzerin und Redakteurin bei einem kleinen Übersetzungsbüro für Kunden aus der Industrie. Ohne das Geringste von Maschinenbau, Elektronik oder auch nur Elektrizität zu verstehen - und dies, obwohl sie unter einem Glühbirnenwechsel zur Welt gekommen war -, verbrachte Lucy fortan ihre Tage damit, japanische Sätze ins Englische zu übertragen, die Wörter durchzurühren, bis das Ende an den Anfang kam, Artikel und Pluralendungen auftauchten, Nebulositäten zu konkreten Details wurden.
Und hier neigte sich meine Geschichte ihrem glücklichen Abschluss zu.
Tokio war mehr, als Lucy sich hätte erträumen können. Zu groß, als dass man da jemals ausfindig gemacht werden könnte, zu laut, als dass man auf irgendetwas zu hören brauchte, zu teuer, als dass man sich darum sorgen müsste, etwas auf die hohe Kante zu legen. Und unter dem ganzen Chaos ein kühles, gleichmäßig schlagendes Herz. Ein Organ, das Blut pumpte durch zittrige Zentenare, dreijährige Nintendo-Cracks, Büroangestellte, die vor Arbeit nicht zum Essen oder Schlafen kamen, Studenten mit aller Zeit der Welt.
Als ich zum Ende kam, schlief Teiji schon. Genau genommen schlief er ein, kurz nachdem ich angefangen hatte. Ich wusste es, aber ich redete weiter, weil ich sah, dass meine Geschichte ihn so schön in den Schlummer wiegte. Ich empfand es nicht
als unhöflich, dass er schlief; sobald ich zu sprechen angefangen hatte, war ihm klar geworden, dass er keine Antwort auf seine Frage erhalten würde - zumindest nicht an dem Abend. Und das war umso besser so. Hätte er gewusst, dass ich eine Kindermörderin war, hätte er mich möglicherweise nicht mehr geliebt.
4
Kameyama stützt die Ellbogen auf den Schreibtisch, verschränkt die Hände unter dem Kinn.
«Ich habe Ihnen schon zehnmal dieselbe Frage gestellt. Ich tue es noch ein weiteres Mal. Worüber haben Sie sich mit Lily Bridges gestritten? Was war die Ursache der Auseinandersetzung, die Ihre Nachbarin beobachtet hat?»
«Ich war wütend. Das habe ich Ihnen schon gesagt.» «Weswegen?»
Ich möchte nicht lügen. Ich halte mich gern an die Wahrheit, aber jede Wahrheit, die ich erzählen könnte, würde mich in Schwierigkeiten bringen, also kommt Ehrlichkeit nicht in Betracht.
«Nichts Besonderes. Irgendeine Belanglosigkeit.»
Der Tag, an dem ich mit Lily auf Wohnungssuche ging, hinterließ in mir ein ungutes Gefühl. Sie hatte mich an meine Kindheit erinnert und mich dazu gebracht, mich zu fragen, wo ich eigentlich war. Teiji kam an dem Abend schon früh zu mir. Seit ich mich von Lily verabschiedet hatte, waren einige Stunden vergangen, und ich war fast wieder ganz in Tokio. Lily begann allmählich, wie ein seltsamer Geist aus der Vergangenheit zu erscheinen. Ich konnte nicht begreifen, warum ich ihr von der Wanderung erzählt hatte. Ich bereute es, sie eingeladen zu haben, und hoffte, dass es regnen und der Ausflug ausfallen würde.
Teiji ging unter die Dusche. Ich lauschte und hörte das Wasser, das über seinen Körper rauschte, gelegentliche dumpfe und metallische Geräusche, wenn er nach Seife oder Shampoo griff, seine Füße auf dem Boden, als er aus der Kabine stieg. Ich hörte das Handtuch an Nacken, Rücken, Beinen reiben. Er räusperte sich ein paar Mal. Der Abfluss gurgelte, und die Badezimmertür öffnete sich. Ich sah zu ihm auf. Wasser rieselte ihm aus dem schwarzen Haar, als hätte es die Fähigkeit zu benetzen eingebüßt, als wären es Quecksilbertröpfchen. Ein paar Mal mit dem Handtuch gerubbelt, und seine Haare waren so gut wie trocken. Und dann kam er zu mir und legte mir den Kopf in den
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