Jones, Susanna
Wasser oder den Rauch zu glauben, und war sich sicher, dass sie auf Fotos nicht zu sehen sein würden. Er fotografierte seine Zehen durch die gekräuselte
Wasseroberfläche in der Erwartung, nur ein Bild seiner Zehen zu erhalten. Sobald die Fotos abgezogen waren, stürzte er zum Geschäft, um sie abzuholen. Dann ging er damit ans Meer, um das Bild mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Bisweilen konnte er nicht entscheiden, was Abbild und was wirklich war. Er wusste, um die Antwort zu finden, würde er mehr Fotos schießen müssen. Bald vergaß er die Vulkaninsel, obwohl sie immer da war und Rauch produzierte, ausstieß und in den Himmel steigen ließ.
Als Teiji vierzehn war, starb sein Vater. Teiji und seine Mutter zogen nach Tokio, wo der Bruder seiner Mutter ein Nudellokal betrieb. Seine Mutter begann, dort zu arbeiten, und Teiji half an den Wochenenden mit. Er war schmal, aber kräftig und erwies sich als nützlich, wenn es darum ging, angelieferte Waren wegzuräumen oder Möbel hochzuheben, um darunter zu fegen. Aber ohne das Meer hatte er keine Ruhe, und er ging oft hinunter an die Bucht von Tokio. Das Wasser dort war am Tage grau und nachts schwarz. Er irrte durch Korridore aus Beton und Neon, verwirrt von der Riesigkeit der Gebäude, der Zahl von Menschen. Die Stadt bewegte sich wie dickes, schmutziges Wasser, aber Teiji schaffte es nicht, die Quelle zu finden. Er wanderte nachts und tags durch die Straßen in der Hoffnung, mit seiner Kamera eine Antwort zu erhaschen. Mit siebzehn brach er die Oberschule ab und fing an, ganztags im Nudellokal zu arbeiten. Er redete nicht viel mit seiner Mutter und seinem Onkel, aber er arbeitete hart, und es gab keine Klagen über ihn. Dann starb seine Mutter.
Das ist die Geschichte, die mir Teiji in einer anderen dunklen Nacht erzählte, mit ein paar Ausschmückungen von mir. Es gibt vieles, worüber er nie sprach. Vermisste er seine Mutter? Vielleicht. Die Kartons in seinem Zimmer enthielten Fotos aus seinem ganzen Leben. Aber er zeigte sie mir nie, und jetzt, wo ich endlich langsam den Mut fand, einen verstohlenen Blick in diese Schatztruhen zu werfen, hatte ich vor, nach etwas anderem zu suchen. Die Bilder, die von seiner Kindheit erzählten, habe ich nicht gesehen.
Das waren die Geschichten in meinem Kopf. Wer kann sagen, wo ich sie herhatte? Anfangs genügten sie mir - er war die magische Statue, die ich in Shinjuku entdeckt hatte, und er war vollkommen -, aber jetzt wollte ich mehr. So viele Jahre fehlten mir. Ich wollte seine Fotos sehen, die Schachteln öffnen.
Ist man erst einmal auf die Idee gekommen, wird man sie natürlich nie wieder los. Ich wusste, dass ich mir die Bilder ansehen würde, also beschloss ich, mir Stunden oder Wochen quälenden Wartens zu ersparen und es gleich zu tun. Ungefähr zwanzig Minuten nachdem Teiji gegangen war, machte ich mich auf den Weg zu seiner Wohnung. Er bewahrte einen Ersatzschlüssel in einem Riss in der Wand neben der Haustür auf. Ich fischte ihn heraus und schloss auf.
Ich ging gleich an die Kartons. Ich war nervös. In gewissem Sinne war ich in seinem Zimmer zu Haus - ich kannte jedes Eckchen und Winkelchen, jedes Fleckchen und Stäubchen -, aber in manch anderer Hinsicht befand ich mich auf verbotenem Territorium. Unter den Deckelklappen lagen säuberlich gestapelte Umschläge und Mappen voller Fotos. Der erste Karton enthielt die Bilder seiner Kindheit. Die interessierten mich momentan weniger. Ich schloss den Karton wieder und schob ihn an die Wand zurück. Der Inhalt des zweiten Kartons war eine Chronik seines Lebens in Tokio. Zuoberst lagen die Bilder, die er von mir aufgenommen hatte. Ich stellte mir vor, dass die untersten seine frühen Schätze sein mussten, seine letzten Tage auf der Oberschule, seine ersten im Restaurant. Ich grub nach der mittleren Schicht. Ich wollte nichts über seine Ankunft erfahren. Ich wollte etwas über die mittleren Jahre in Tokio wissen, die Jahre, bevor er Lucy kennen gelernt hatte.
Es gab die üblichen Bilder von Wasser, Passanten, Bahnhöfen und Tunnels. Dann fand ich, wonach ich vermutlich gesucht hatte. Das Bild einer jungen Frau. Sie sah durch ein Busfenster in die Kamera. Sie hatte ein weiches, rundes Gesicht, tief liegende Augen und halblang geschnittene Haare, die ihr Kinn streiften. Sie sah so aus, als hätte sie hübsch sein können, aber sie starrte mit müden, zornigen Augen in die Kamera. War das Teijis Geliebte gewesen, bevor er mich gefunden hatte?
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